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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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nach geordnet. Aber das Einfachste, das Schönste, wenn Schnee und Regen zusammen und in immer neuen Formationen auftreten, darüber schweigen sich die Wissenschaftler aus.
    Dabei wäre es ganz einfach. Seine Augen sind auf Gestalt und Form von Schnee und Regen trainiert, sein Gehör kann die Schallwellen der Tropfen und Flocken zuverlässig auseinanderhalten. Das Mischverhältnis würde er mit der Nase bestimmen, je mehr sich die Balance zum Schnee hin verschiebt, desto reiner röche die Luft. Natürlich hätte er den Niederschlag zu protokollieren, lückenlos, was Beharrlichkeit verlangt, Thermometer, Barometer, Hygrometer, aber auch Pluviometer und Heliograph, Wolkenspiegel und Windmesser nicht zu vergessen – es gäbe allerlei zu bestimmen, bis jedes Wetter, jeder Niederschlag, jede Temperaturschwankung erfasst wäre. Aber das ist nicht alles, bei aller Akribie dürfte er die Gefühle nicht außer acht lassen, müsste die unterschiedlichen Stimmungen notieren, die Schneeregen in ihm auszulösen vermag, mal fühlt er sich matt, mal, der Beschaffenheit des Niederschlags gehorchend, voller Spannkraft, mal ist ihm heiß, mal kalt, und seine Gedanken, lässt er ihnen freien Lauf, kreisen um fröhliche oder traurige Themen, um längst vergangene oder noch bevorstehende Zeiten. All dies, die körperlichen Erscheinungen wie die spontanen Empfindungen, müsste er zu einem großen Modell verschmelzen.
    Eine kleine Schule des Schneeregens, das wäre ein Projekt, für das er sich begeistern könnte. Systematik in das Wetter bringen, Klarheit schaffen ein für allemal. Für so eine Aufgabe kommt nur Latein in Frage. Ein Name für die Schneeregenkunde ist längst gefunden: Pluvianivalik. Was fehlt, ist eine einheitliche Schneeregensprache, eine verbindliche Taxonomie, um Gattungen und Arten zu unterscheiden. Ein paar Namen hat er schon zusammengetragen, das verlernt man nicht mehr, hatte sein Lateinlehrer immer gesagt, calidus und frigidus, heiß und kalt, fortis und infirmus, kräftig und schwach, und aus dem übergroßen Formenreichtum lassen sich noch ganz andere Gruppen bilden, schon kommen ihm weitere Eigenschaftswörter in den Sinn, er hält sich am Geländer fest wie an einem Rednerpult, holt tief Luft, räuspert sich und spricht mit feierlicher Stimme: Pluvius nivalis luminosus, pluvius nivalis facilis, er zögert kurz, die Kasusfehler, doch damit darf er sich jetzt nicht aufhalten, pluvius nivalis antecedens, fluxus, perpetuo, nebulosus, odorus, incontaminatus, aequaliter, ambiguus, gravis, humilis, acidus, glacialis, magnificus, lacrimabundus, horrifer, periculosus, fatigatus, animo relictus, mortiferus.
    Es ist dunkel geworden. Schwitter sitzt noch immer am Fenster. Autos fahren auf der Straße, eine Rechtskurve, die Scheinwerfer leuchten in die Wiese, als würde jemand mit einem Putzlappen über das Gelände wischen. Ob Regen oder Schnee fällt, ist nicht mehr zu unterscheiden, und er könnte nach draußen gehen, unbemerkt an den Pflegerinnen vorbei, mit dem Lift nach unten fahren. Wer weiß, wie lange es dauerte, bis sein Fehlen entdeckt würde.





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