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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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selbst kleinste Temperaturveränderungen vermag man zu spüren, minime Druckverschiebungen.
    Er würde den Schritt verlangsamen, damit der Chef ganz nahe aufschließen könnte, würde sich zur Sicherheit alle paar Meter nach ihm umdrehen. Der Niederschlag hätte den Weg aufgeweicht, sie müssten sich auf die Schritte konzentrieren, um Halt zu finden. Und auf den Atem, der Chef müsste ganz dicht hinter ihm gehen, fast seinen Rücken berühren mit dem Kopf, um zu hören, wie er Luft schöpfte, helle, kurze Töne beim Einatmen, lang und kraftlos das Ausatmen, Lippenbremse, die Technik hatte ihm Schindler, sein lungenkranker Zimmernachbar, beigebracht damals, saß stundenlang am Bettrand und machte nichts anderes als ein- und auszuamten, die Luft, erklärte er, ruhig durch die Nase einziehen, nach drei, vier Wörtern musste er eine Pause machen, bevor er langsam weiterreden konnte. Schwitter brauchte ein, zwei Tage, um sich an sein stockendes Reden zu gewöhnen, man muss … die Lippen zusammenpressen … dann die Luft ausstoßen … das bremst den Luftstrom ab … soll die Atemwege erweitern … verhindern, dass die Bronchien … in sich zusammenfallen. Bald würde sein Chef im gleichen Rhythmus atmen, nicht vor Anstrengung, wegen dieses Aufstiegs kommt ein Ausdauerathlet nicht ins Schnaufen, von alleine würden sich ihre Frequenzen angleichen, als wollten sie gemeinsam diesen Raum ausloten, als atmeten sie in jeden Spalt hinein, in jede Furche des Waldbodens. Jetzt brauchen sie keine Worte mehr, um sich zu verstehen.
    Schwitter sitzt aufrecht im Bett und beobachtet den Mann. Vorhin, als er ihn zum ersten Mal sah, deckte er die Fußleisten ab mit diesem Klebeband, inzwischen hat er sich schon fast bis zum Fenster vorgearbeitet. Keine Ahnung, ob er Dispersion aufträgt oder bloßes Leitungswasser, wozu geht er alle paar Minuten ins Bad und dreht den Hahn auf? Der Mann beachtet ihn überhaupt nicht, auch dann nicht, wenn er sich zum Farbkessel bückt und dabei kurz den Kopf in Schwitters Richtung hält, lässt lautlos den Roller über die Wand gleiten, als wäre das Zimmer leer, die Vorbereitung für den Wechsel schon im Gang, für jeden pflichtbewussten Vermieter eine Frage das Anstands, die Spuren des Vorgängers zu tilgen. Wozu tun Sie das? Mit aller Kraft schreit Schwitter die Worte, doch der Maler kann sie nicht hören, wechselt den Roller von der rechten in die linke Hand, zieht am Stumpen, den er mit den Lippen festhält, ein ungeniertes Schmatzen, die Asche kippt er in den Farbkübel. Vielleicht, denkt Schwitter, hilft das ja, die Spitalkeime abzutöten. Aber halt, den Stumpen kennt er doch, der ist schon einmal langsam abgebrannt, nicht lange her, er döste etwas vor sich hin, der Alte wollte ihm unbedingt Schnaps einflößen, ein paarmal spürte er eine Hand auf seiner Wange, rauh, voller Risse war sie, und dieselben wässrigblauen Augen, als würden sie gleich überlaufen. Schon greift sich der Alte die Teekanne und schenkt sich ein, fingert am Inhaliergerät herum, was fällt dem ein, doch nicht mit den Händen voller Farbe, da schnappt der sich die Maske und presst sie Schwitter aufs Gesicht. Als er mit den Armen zu fuchteln beginnt, hört er noch, wie der Alte auflacht.
    Das Telefon klingelt, doch bevor Schwitter danach greifen kann, hält Gruber den Hörer in der Hand. Er hört lange zu, ohne etwas zu sagen, blickt nur immer wieder zu Schwitter. Geben Sie mir doch den Hörer, flehen seine Augen, ich muss meinem Chef erklären, wie das alles passiert ist. Es geht ihm gut hier, sagt Gruber, ja, er erholt sich, von Tag zu Tag besser, Sie würden sich wundern, ein bisschen Aufmerksamkeit tut jedem von uns gut, nicht wahr. Was dieser Gruber mit dem Chef reden kann, sonst hängt der nach zwei Minuten auf, waste of time, ermahnt er per Email, wenn einer im Team ins Plaudern kommt. Aber warum gibt Gruber alles zu, warum nimmt er alle Schuld auf sich, selbst für Dinge, die er bloß gedacht hat, das mit Beatrice, war doch gar nicht so gemeint gewesen, konnte ja nicht wissen, dass sie so daran hängt, wie soll er das wissen, wenn sie nichts sagt, steht ja nirgends geschrieben. Hatte sie nicht zu ihm gesagt, ohne aufzublicken: Ich habe alles eingepackt, morgen kommt mein Bruder und holt die Sachen ab. Dabei hat sie gar keinen Bruder, war alles gelogen, zur Rede hätte er sie stellen sollen. Sie klappte das Buch zu, sah ihn an: Bist du fertig? Er nickte, bevor sie die Frage ausgesprochen hatte. Sie: Warum sitzen wir
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