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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Augenbrauen hoch. Sie meinen, es ist nicht klar, ob man im Laufschritt trockener bleibt?
    Genau. Aber reden Sie mir nicht von Laufschritt, so etwas kommt im Schneeregen überhaupt nicht in Frage. Und trocken bleiben wollen wir doch auch nicht, oder? Ich denke, das habe ich Ihnen ausführlich erklärt.
    Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wäre es wohl gerade umgekehrt. Sie fragen sich, welches die optimale Geschwindigkeit wäre, um möglichst viel Schnee und Regen abzubekommen.
    Exakt. Sie machen Fortschritte, Herr Gruber, ich glaube, Sie sind dem Rätsel bereits ein bisschen näher gekommen.
    Aber die Frage bleibt: Wie schnell soll man gehen, um bei Regen richtig nass zu werden?
    Ich hab irgendwo einmal gelesen, dass es gar nicht auf die Geschwindigkeit ankommt, vorausgesetzt, der Regen fällt überall gleichmäßig.
    Egal, ob jemand rasch oder langsam ginge, fragt Gruber. Dann könnte man also im Zeitlupentempo gehen?
    So betrachtet schon.
    Das kann ich nicht glauben. Wenn jemand fast stehenbleibt, fällt doch viel mehr Regen auf ihn.
    Hm, versucht Schwitter Zeit zu gewinnen, wenn jemand ganz langsam geht, regnet es mehr auf seinen Kopf und auf die Schultern, dafür bleiben Beine und Rumpf trockener.
    Und wenn er ganz schnell geht, dann wäre es wohl umgekehrt?
    Genau. Nehmen wir einmal an, jemand würde sich unendlich schnell bewegen, dann würde er mit seiner Vorderseite sämtliche Wassermoleküle einfangen, die sich zwischen seinem Scheitel und dem Erdboden befinden.
    Mit Lichtgeschwindigkeit, meinen Sie.
    Genau, und der Kopf bliebe trocken.
    Aber dann kommt es doch auf die Geschwindigkeit an?
    Weshalb meinen Sie?
    Wenn dieser Jemand bei langsamem Gehen den Niederschlag mit Kopf und Schultern einfängt und bei schnellem Gehen mit seiner Vorderseite, dann ist das doch nicht das gleiche.
    Das kommt ganz darauf an.
    Worauf kommt das an?
    Ich meine, die Fläche des Kopfes ist geringer als jene des Körpers. Irgendwie hängt es vom Verhältnis der beiden Flächen ab. Stehen Körpergröße und -umfang im richtigen Verhältnis zum Kopf, dann spielt die Geschwindigkeit keine Rolle.
    Sie meinen, wenn der Regen gleichmäßig fällt und das Verhältnis stimmt, dann wäre alles wunderbar im Gleichgewicht?
    So kann man es ausdrücken, Herr Gruber.
    Seinen Chef müsste er nicht zu einem Ausflug überreden, der käme von alleine auf den Geschmack. Eine Sportlernatur, immer in Bewegung, erzählt von seinen Touren, mit dem Fahrrad über die Pässe, drei, vier an einem Tag, bald vierzig ist er, aber besser in Form als früher, sagt er zumindest, erzählt ständig, wie viele Höhenmeter er schon bewältigt hat, in einem Jahr über zwanzigtausend Meter, mehr als zweimal auf den Mount Everest hoch, vom Meer aus, rechnet er vor, wo sonst lässt sich die Performance so präzise ermitteln, das Fahrrad das ideale Messgerät, und dann das Psychische, sich überwinden, die Schmerzen aushalten in den Beinen, im Brustkorb, das Gefühl von Sicherheit danach, sich auf den Körper verlassen zu können, ja und die Gänsehaut, wenn er andere überholt, und er überholt viele Fahrer, sieht er einen vor sich, der sich hochquält, schaltet er in einen höheren Gang, geht aus dem Sattel, fährt nahe an ihn heran, dann drosselt er, bevor er ihn überholt, das Tempo ein bisschen, um zu verschnaufen, man soll ihm die Anstrengung ja nicht ansehen, erst jetzt zieht er an ihm vorbei, auf dem Gesicht ein breites Lächeln, spricht vielleicht ein paar Worte mit ihm, versucht dabei so ruhig wie möglich zu atmen, Gänsehaut auch, wenn ihn Wanderer anfeuern am Berg, die Haare stellen sich auf, besser als Sex, sagt er mit einem Zwinkern. Schwitter fragt sich, wie oft er seine Frau schon betrogen hat.
    Auch Schneeregen kostet Überwindung, man darf sich nicht um die Schmerzen kümmern, wenn einem Nässe und Kälte in die Glieder fahren, wenn die Schönheit des Schneeregens greifbar wird wie eine Liebe, die nur langsam Gestalt annimmt, wie zwei Menschen, die nur zögerlich zueinander finden, die sich an Makel und Versehrungen, die sie im Gesicht des andern zu sehen glauben, zuerst gewöhnen müssen, die nach und nach, Berührung um Berührung, die wahre Gestalt erkennen und gerade dadurch eine umso tiefere Beziehung formen. Es braucht Zeit, bis Regen und Schnee berauschen, bis man sich nicht mehr fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Hellwach die Sinne, der Rhythmus der Regentropfen dringt überdeutlich zu einem, auch die zarten Bewegungen der Schneeflocken,
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