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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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vorher gar nicht aufgefallen, sie bewegen sich überhaupt nicht. Erst als er ganz tief Luft holt, kann er sehen, wie sich die Öffnungen zusammenziehen, ganz wenig nur. Beim Ausatmen nehmen sie wieder den ursprünglichen Durchmesser an. Er wäscht sich die Hände und greift nach dem Rasierer. Zwischen Zeigefinger und Daumen dreht er ihn, probt ein paar Bewegungen in der Luft, bis er sich sorgfältig über die rechte Wange fährt. Schaum wölbt sich vor der Klinge, dahinter kommt bleiche Haut zum Vorschein. Zu Hause rasiert er sich trocken. Umständlich zieht er die Klinge ein zweites Mal über das Kinn, bleibt hängen, er muss etwas stärker drücken, darauf ein Zucken, ein brennender Schmerz.
    Er legt den Rasierer weg und schaut, die Hände aufs Waschbecken gestützt, in den Spiegel. Noch ist kein Blut zu sehen, kein Punkt, der größer wird, um bald im Schaum zu zerfließen. Vielleicht kommt es noch. An ihm solls nicht liegen, er hat Zeit, er kann hier stehen bleiben, bis es dunkel wird. Doch die Blutbahn ist verstockt. Egal wie lange er wartet, es ist kein Rot zu sehen. Also wischt er sich den Schaum vom Kinn, und nun kommt der Riss zum Vorschein, eine deutliche Spur, Schwitter bewegt die Fingerkuppen darüber, um die Kerbe zu befühlen. Mit den Daumen versucht er die Haut zu dehnen, tatsächlich öffnet sich der Spalt ein bisschen, zeigt sein Inneres, blasses Fleisch, aber noch immer kein Blut, selbst wenn er die Haut zusammendrückt. Er beginnt zu massieren, lässt den Daumen auf der versehrten Stelle kreisen, drückt gegen den Unterkiefer, bis der Knochen schmerzt und die Haut sich rötet. Er wünscht, er könnte seine Lippen auf die Wunde pressen und daran saugen, um das Blut zum Fließen zu bringen.
    Dass er an Blutarmut leidet, kann ausgeschlossen werden. Eine Störung von solchem Ausmaß wäre ihm längst aufgefallen, und auch sein Arzt hätte etwas merken müssen bei der letzten Untersuchung. Die Blässe seines Gesichts lässt sich mit seiner Erschöpfung hinreichend erklären, und er kann nicht sagen, dass das Wetter einer gesunden Hautfarbe förderlich gewesen sei. Das Gewebe, kein Zweifel, wird korrekt durchblutet, er braucht sich nur die Hand auf die Wange zu halten, um Wärme zu spüren. Trotzdem, denkt er, wäre es nicht unverhältnismäßig, Hilfe zu verlangen. Die Wunde muss gereinigt werden. Wenn kein Blut austritt, bleiben die Keime im Gewebe, sie können ja sonst nirgends hin. Immer wieder hört man von gefährlichen Spitalinfektionen. Vor einem halben Jahr musste die Frau vom Amstutz ins Spital, etwas mit der Milz, Routineeingriff, kurz die Bauchdecke geöffnet und wieder geschlossen, aber nach ein paar Tagen begannen die Bazillen zu wuchern, bis sie den eigenen Mann nicht mehr kannte. Jetzt arbeitet der Amstutz nicht mehr bei ihnen, habe die Performance, sagte der Chef, einfach nicht mehr gebracht.
    Er wäscht sich den restlichen Schaum ab, macht der Prozedur ein Ende. Im Spiegel kann er das halb rasierte Gesicht erkennen, er kommt sich lächerlich vor. Wenigstens die Haare, denkt er und greift nach dem Kamm, bevor er ins Bett humpelt. Vielleicht sollte er klingeln und nach einem Pflaster verlangen. Sonst macht er, falls doch etwas Flüssigkeit austreten sollte, die Bettwäsche schmutzig. Er friert, das Fieber muss gestiegen sein. Am Morgen hatte er bereits 38,3 Grad. Die Pflegerin zeigte keine Reaktion, als sie den Wert ablas, vergessen Sie Ihren Tee nicht, sagte sie nur, bevor sie aus dem Zimmer ging.
    Hell ist es geworden, Schwitter richtet sich auf, damit er sehen kann, wie Sonnenstrahlen durch die Wolken brechen. Der Raum wirkt in diesem Licht noch reiner als sonst. Über den lehmfarbenen Linoleumboden gleitet sein Blick zum Holztisch, den Stühlen davor und weiter zu den beiden Sesseln, zu Grubers leerem Bett, daneben der fahrbare Beistelltisch, darauf die Wasserflasche. Das Zimmer, wundert er sich, entspricht genau seiner Vorstellung. Als wären alle Spitalzimmer nach dem gleichen Plan gebaut, mit den gleichen Gegenständen eingerichtet. Das letzte Mal war er wegen einer akuten Blinddarmentzündung im Spital, über zehn Jahre ist das her, alles sah aus wie hier, mitten im Urlaub hatten die Schmerzen eingesetzt, er musste sofort operiert werden. Die Arztgehilfin war so freundlich, ihn gleich in ihrem Wagen in die nächste Klinik zu fahren, ein roter Alfa Romeo, in rasanter Fahrt gings das Prättigau hinunter, sie schien es richtig zu genießen, auf die Sanität, sagte sie, warte man bei
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