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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Labyrinth, von einer Frau, über einem ihr Gesicht und Neonlampen, hinein in einen Lift, unvermittelt diese menschliche Nähe, man will etwas reden, die Spannung vertreiben, doch kein Wort, nach dem man greifen kann, Erleichterung, wenn sich die Lifttür öffnet, wieder Gänge, Lampen, Schilder, schließlich Halt vor einer Tür, vorsichtiges Manövrieren, man wird in Position gebracht, mit Tee versorgt und mit Tabletten, eine der Lampen bleibt angeschaltet, damit Sie das Badezimmer finden, Herr Schwitter, sagt die Schwester, alle wiederholen seinen Namen, als hätten sie Angst, dass er ihn gleich wieder vergisst, noch ein Blick zum Nachbarn, Herr Gruber, sagt sie eine Spur zu laut, ihm geht es nicht so gut, dann verlässt sie das Zimmer.
    Eine wildfremde Person, ein Bauer, wird zu seinem Lebensretter, erfüllt die vornehmste Pflicht, die man sich vorstellen kann. Ausgeschlossen, sich angemessen dafür zu bedanken, kein Mensch kann so etwas, und doch wird er seinen Retter aufsuchen müssen, das ist eine Frage des Anstands. Aber wie zeigt man seine Freude über ein gerettetes Leben? Soll er dem Bauern um den Hals fallen, ihn umarmen, an den Schultern fassen, an sich pressen, so fest er kann, sollen sie sich zusammen im Kreis drehen, tanzen vor Freude, bis sie taumeln, soll er ihn vielleicht sanft mit seinen Handflächen berühren, wie ein Blinder ihm übers Gesicht fahren, ein Abbild nehmen von diesem Menschen, ihn küssen, wieder und wieder umarmen, das Kinn auf seine Schultern aufstützen und weinen, endlich weinen? Mit Geld wäre es einfacher. Es sollte einen festen Betrag geben, um sich für diese Dienstleistung erkenntlich zu zeigen, vom Staat bestimmt, abhängig vielleicht vom Rettungsaufwand und den eigenen finanziellen Möglichkeiten, dann bräuchte er bloß ein Couvert zu überreichen, zusammen mit einer Flasche Schnaps. Er wird an der Tür läuten und scheitern. Kaum öffnet der Bauer, wird Schwitter die Augen spüren, die ihn befragen, er kann dem Blick nicht standhalten, wird die auswendig gelernten Dankesworte heruntersagen, dabei auf seine Hände schauen, die sich am Griff eines Korbes festhalten, der mit Birnenweggen gefüllt ist und mit Käse, Würsten, Trockenfleisch, ordentlich geschmückt und vakuumverpackt, viel zu schnell wird er reden, der Bauer wird nichts verstehen. Schwitter kann froh sein, wenn er den Korb loswird.
    Und jetzt auch noch der Arzt, bemüht sich an einem Sonntag hierher, wegen einer lapidaren Erkältung. Und nicht irgendein Arzt, der Chefarzt selbst wird zur Visite erscheinen, sogar die Pflegerin schien erstaunt darüber, als sie ihm das erklärte. Bestimmt haben sie seine Personalien falsch aufgenommen, oder sein Name stimmt zufällig überein mit dem Namen eines Stammgasts oder eines engen Freundes des Professors. Der wird Augen machen, wenn er die Verwechslung bemerkt, mit einem kalten Blick wird er die anwesende Pflegerin abstrafen, bevor er sich dem Wanderer zuwendet. Auf den Nachmittag ist der Professor angekündigt, Schwitter bleiben noch drei, vier Stunden, sich eine Erklärung auszudenken, zurechtzulegen, was er preisgibt und was nicht. Überzeugen will er bei diesem mündlichen Examen, entschlossene Schritte zum Experten, taktsicherer Armschwung, aufrechte Haltung, die Hand mit Kraft gereicht, doch keine Übertreibung, keine Überheblichkeit riskieren, den Blick im Gegenüber ruhen lassen, um dann flüssig vorzutragen. Schwitter verheddert sich gern, vor Anspannung hebt und senkt er die Stimme, staut da den Redefluss, schießt dort unvermittelt los. Bis heute sieht er sich im Traum alle paar Wochen vor einem Fragebogen sitzen, überall reiben Kugelschreiber auf dem Papier, nur er weiß nichts zu schreiben. Dabei hat er alle Prüfungen bestanden, sogar beim Autofahren hat es im ersten Anlauf geklappt, was allerdings nicht daran lag, dass er besonders klug war. Es war die Angst vor dem Scheitern, die ihn härter arbeiten ließ als die anderen. Und jetzt kennt er nicht einmal das Thema, er weiß nur, dass es vom Urteil des Professors abhängt, wie lange er hier bleiben wird.
    Intercity Zürich-Chur. Schwitter will ganz vorne beginnen, sich an die Chronologie zu halten, wird das Beste sein. Wenn die Pflegerin rechtzeitig das Inhaliergerät bringt, kann er, sobald sich ihre Verwunderung über die Teilrasur und seine Wunde am Kinn gelegt hat, den Text, den er für den Professor vorbereitet hat, in aller Ruhe durchsprechen, seine Wirkung testen. Die Geschichte wäre auch Gruber
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