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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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1
    Ich stamme aus Des Moines. Irgendwer muss ja aus diesem Kaff stammen.
    Wer aus Des Moines stammt, akzeptiert diese Tatsache entweder ohne zu murren, richtet sich mit einem einheimischen Mädchen namens Bobbi häuslich ein, besorgt sich einen Job in der Firestone-Fabrik und lebt bis in alle Ewigkeit in Des Moines. Oder er verbringt seine Jugend damit, ausgiebig zu jammern, welch ein elendes Loch Des Moines sei und wie ungeduldig er darauf warte, von dort wegzukommen, um sich schließlich mit einem einheimischen Mädchen namens Bobbi häuslich einzurichten, sich einen Job in der Firestone-Fabrik zu besorgen und bis in alle Ewigkeit in Des Moines zu leben. Kaum jemand verlässt Des Moines, denn Des Moines ist das wirksamste aller Schlafmittel. Vor der Stadt verkündet ein großes Schild: »Willkommen in Des Moines. Diese Stadt ist wie der Tod.« Das Schild steht nicht wirklich da. Ich habe es soeben erfunden. Doch der Ort hat etwas Besitzergreifendes. Menschen, die nie etwas mit Des Moines zu tun hatten, fahren von der Interstate ab, um nach einer Tankstelle zu suchen oder einen Hamburger zu essen, und bleiben für immer. In der Straße, in der meine Eltern wohnen, lebt ein Ehepaar aus New Jersey. Manchmal sieht man die beiden die Straße entlangschlendern, etwas verdutzt, aber seltsam gleichmütig. Jeder in Des Moines ist auf seltsame Weise gleichmütig.
    Ich kannte nur einen Menschen in Des Moines, der nicht gleichmütig war – Mr. Piper, unser Nachbar. Ein anzüglich grinsender
Schwachkopf mit kirschrotem Gesicht, der sich ständig betrank und mit seinem Auto Telegrafenmasten rammte. Überall stieß man auf schiefe Telegrafenmasten und Straßenschilder, Spuren von Mr. Pipers Fahrgewohnheiten. Er hinterließ diese Spuren auf der ganzen Westseite der Stadt, ungefähr so wie Hunde Bäume markieren. Mr. Piper war das menschliche Pendant zu Fred Flintstone, war allerdings weniger charmant. Er war Freimaurer und Republikaner – Nixon-Republikaner – und schien sich berufen zu fühlen, Beleidigungen auszuteilen. Wenn er sich nicht gerade betrank und sein Auto demolierte, bestand sein Lieblingszeitvertreib darin, sich zu betrinken und seine Nachbarn zu beschimpfen, insbesondere uns, denn wir waren Demokraten. Waren wir nicht in Reichweite, nahm er jedoch auch mit Republikanern vorlieb. Schließlich wurde ich erwachsen und ging nach England. Das ärgerte Mr. Piper maßlos. Es war schlimmer, als Demokrat zu sein. Jedes Mal, wenn ich in der Stadt war, kam Mr. Piper herüber und wies mich zurecht. »Ich weiß nicht, was du da drüben bei den Tommies machst«, provozierte er mich dann. »Das sind keine anständigen Leute.« – »Mr. Piper, Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, pflegte ich mit gekünsteltem englischem Akzent zu antworten. »Sie sind ein Kretin.« Man konnte so etwas zu Mr. Piper sagen, denn 1. war er ein Kretin und 2. hörte er niemals zu, wenn man mit ihm sprach. »Bobbi und ich waren vor zwei Jahren drüben in London. Unser Hotelzimmer hatte nicht mal eine Toilette«, ging es weiter. »Wenn man mitten in der Nacht pissen wollte, musste man ungefähr eine Meile durch den Korridor rennen. Das ist doch keine saubere Art zu leben.« – »Mr. Piper, die Engländer sind wahre Muster an Reinlichkeit. Es ist eine wohl bekannte Tatsache, dass sie mehr Seife pro Kopf verbrauchen als sonst jemand in Europa.«
    Hierzu schnaubte Mr. Piper gewöhnlich verächtlich. »Das heißt gar nichts, mein Junge, nur weil sie sauberer sind als ein Haufen Krauts und Spaghettifresser. Mein Gott, ein Hund ist
sauberer als ein Haufen Krauts und Spaghettifresser. Und ich sag dir noch was: Wenn sein Daddy nicht Illinois für ihn gekauft hätte, wäre John F. Kennedy nie zum Präsidenten gewählt worden.«
    Ich hatte lange genug in Mr. Pipers Gesellschaft verbracht, um mich durch diesen abrupten Themawechsel nicht durcheinander bringen zu lassen. Die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen von 1960 war sein altes Klagelied, das er alle zehn oder zwölf Minuten in jede Unterhaltung einbrachte, egal, worüber man gerade sprach. Während der Beerdigung von Kennedy 1963 hatte ihm jemand für diese Bemerkung im Waveland Tap eine Ohrfeige verpasst. Daraufhin wurde Mr. Piper so wütend, dass er geradewegs hinausmarschierte und sein Auto gegen einen Telegrafenmast rammte. Mr. Piper ist inzwischen gestorben – ein Ereignis, auf das man in Des Moines gut vorbereitet wird.
    Als ich älter wurde, sagte ich mir, dass es zumindest ein Gutes habe,
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