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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Oberfläche, fühlen die Temperatur, machen sich vertraut mit den Elementen, dann beginnen sie, die beiden Gesänge ineinander zu weben, Harmonie zu erregen. Führt Gruber die Stimme, kümmert sich Schwitter um den Takt und umgekehrt, Melodie, Begleitung, Melodie, Begleitung, unablässiger Rollentausch, über allem regiert Vergänglichkeit, fest und flüssig, den Gegensatz überwinden für einen Moment. Jeder spürt, was der andere vorhat, sie können mit geschlossenen Augen spielen, mal zieht Schwitter die Mollakkorde mit dem Pedal in die Länge, mal hebelt Gruber die Dämpfer aus, um den traurigen Klang zu dehnen. Musik, gemacht für einen Bechstein, es gibt kein schöneres Instrument, hat seine Klavierlehrerin immer gesagt, um zu nuancieren, Schattierungen anzubringen, Nachklang anzuhäufen. Aber sie brauchen keinen Bechstein, die Töne lassen sich auf jedem Instrument zu düsteren Gebilden fügen, tränenreiche Bogen spannen, Klangnebel formen, eine blassgraue Landschaft entwerfen, alles mit Schnee und Regen überziehen. Träge und dunkel fließt die Musik durch den Raum, sanft drückt Schwitter den Dämpfer, Gruber wagt es kaum, die Tasten zu berühren für ein Pianissimo, wie ein zarter Kristall soll es sich im Nichts verlieren. Dann schlagen sie rund und voll an, schwere Tropfen prallen auf. Vor ihren Augen formt sich das Wetter, im Nacken spüren sie ein Kribbeln, die Kälte wandert den Rücken hinab. Bloß das Gefühl in den Händen dürfen sie nicht verlieren.
    Das mit Beatrice war die Ausnahme gewesen, wenigstens die ersten paar Wochen. Ob er ihr helfen könne, den Film zu wechseln, hatte sie ihn gefragt. Er war überrascht gewesen, als sie sich zu ihm ins Zugabteil gesetzt hatte, immer wieder musste er vom Buch aufschauen, ihr Gesicht betrachten, ihren dünnen Körper, auf einer Ballettbühne hätte er sie erwartet, mit den zusammengebundenen Haaren, dem enganliegenden T -Shirt, aber nicht hier. Beim Walensee nahm sie eine Kamera aus ihrer Handtasche und begann zu fotografieren. Wald, Weinreben, die Churfirsten zogen vorbei, und immerzu drückte sie auf den Auslöser. Als sie die Linthebene erreichten, war der Film voll. Vergeblich versuchte sie, einen neuen einzulegen. Das hat man davon, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm, wenn man sich dem technischen Fortschritt verweigert. Er nickte, nahm den Apparat, den sie ihm hinstreckte, wortlos entgegen, überlegte, an der Kamera hantierend, was er ihr sagen könnte, ließ sich Zeit, eine schöne Landschaft, sagte er schließlich, nun war sie es, die nickte. Noch zweimal wiederholten sie das so, dann, der Zug fuhr schon in Zürich ein, fragte sie ihn nach seiner Adresse, damit ich Ihnen, sagte sie, ein paar Fotos schicken kann. Eine Woche später fand er eine Karte im Briefkasten, unterschrieben mit Beatrice. Kein Wort von den Bildern, stattdessen: Sie würde ihn gerne treffen, sie kenne eine kleine Bar im Seefeld. Schwitter war erstaunt, die Frau musste ihn für reich halten, oder sie war dabei, sich von ihrem Freund zu trennen, das steht man besser durch, wenn man nicht alleine ist.
    Er hatte sich ganz gut organisiert, die Wohnung geräumig, wenn auch nicht übertrieben groß, eine Arbeit, die ihn forderte, ohne dass er sich aufopfern musste, und natürlich genügend Ausgleich, Krafttraining für den Rücken, Wandern für den Kreislauf, auch achtete er auf die Ernährung, Früchte, Gemüse, alles biologisch, und abends, bevor er schlafen ging, spielte er Schach. Mit der Zeit weiß man, was einem guttut, und Schwitter hielt sich daran. Aber jetzt, die Karte wieder und wieder lesend, sah er seine Regeln bedroht, und tatsächlich gab es schon bald Veränderungen, oft ging er erst um neun auf die Bank, in seinem Kühlschrank verdarben Milch und Salat, die Zeitungen legte er ungelesen aufs Altpapier. Nachdem er das erste Mal bei Beatrice übernachtet hatte und darauf im gleichen Hemd und mit gleicher Krawatte zur Arbeit erschienen war wie am Vortag, legte er in ihrer Wohnung einen Kleidervorrat an.
    Nicht, dass er nie damit gerechnet hätte, seine Gewohnheiten einmal aufgeben zu müssen. Manchmal hatte er sich danach gesehnt, dass etwas passieren, alle Ordnung und Gewissheit in seinem Leben weggefegt würde. Aber er hatte es sich anders vorgestellt, an eine körperliche Beschädigung gedacht, die ihn aus seiner Welt reißen könnte, ein Sturz vom Fahrrad, eine diffuse Müdigkeit, die ihn ins Bett zwänge, er rechnete mit Diebstahl, Wohnungsbrand, mit
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