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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Schicksalsschlägen von Freunden und Verwandten. Eigentlich hätte sich längst etwas Gravierendes ereignen müssen. Doch Schwitter und mit ihm alle, die er näher kannte, blieben verschont.
    Schwitter richtet sich auf und sucht den Boden nach Scherben ab. Die kleinen Splitter der Tasse können sich weit zerstreuen. Doch er sieht nichts, alles wirkt aufgeräumt, es riecht nach Putzmittel, der Spucknapf ist gereinigt, auf dem Nachttisch fällt ihm ein frischer Kissenüberzug auf, daneben eine neue Tasse. Und das Inhaliergerät. Er muss geschlafen haben, als eine Pflegerin die Maschine gebracht und gleich noch Ordnung gemacht hat. Dabei hätte er nach Zahnseide fragen wollen, und vor allem: Die Behandlung war längst fällig. Die Anordnungen des Arztes gilt es unter allen Umständen einzuhalten, sonst ist der ganze Aufenthalt vergebens. Ob er den Apparat einfach einschalten soll, ohne Anleitung? Eingesteckt ist er, Flüssigkeit scheint eingefüllt, eine Maske aus durchsichtigem Kunststoff liegt bereit. Doch Schwitter zögert, er weiß ja nicht, wie lange er inhalieren soll und mit welcher Atemfrequenz. Er freut sich auf die Anleitung, die Pflegerin wird die Rückenlehne hochstellen, Sie müssen aufrecht sitzen, wird sie sagen, damit Sie tief einatmen können, dann legt sie ihm die Maske auf den Mund, ein sanfter Druck ist zu spüren, die Ränder müssen gut aufliegen auf der Haut, erklärt sie, nimmt seine Hand und führt sie zur Maske, so müssen Sie sie halten, sagt sie, und jetzt schließen Sie die Augen und atmen ruhig und regelmäßig.
    Um wach zu bleiben, humpelt er zum Sessel. Er denkt an Gruber und wundert sich, weshalb der nie am Fenster gestanden war, nie hinuntergesehen hat. Das Zimmer befindet sich im dritten oder vierten Stock, auf alle Fälle hoch genug, und so ist das Fenster mit einem Metallgitter versehen. Doch Gruber hat sich nichts aus der Aussicht gemacht, ist in seinem Bett gelegen und hat schwer geatmet. Jetzt kann Schwitter nur seinen eigenen Atem hören. Er weiß nicht, wie lange er es hier noch aushält alleine. Wissen die denn nicht, was das für ihn bedeutet, von allem getrennt zu sein? Er muss an die Geschichte denken, die er gelesen hat bei Beatrice, zufällig hatte er nach einem ihrer Bücher gegriffen: Zwei schwerkranke Männer sind im Spital, der eine liegt am Fenster, der andere bei der Tür, dem am Fenster ist es nicht wohl, wegen des Vorteils dem andern gegenüber, und so beginnt er ihm zu erzählen, was er draußen sieht, stundenlang redet er, von morgens früh bis abends spät, der andere hört zu, ohne etwas zu erwidern, dann, in einer Nacht, ringt der am Fenster mit dem Atem, er hustet, röchelt, der andere sollte klingeln, damit jemand kommt, doch er rührt sich nicht, er hofft auf den Platz am Fenster, am nächsten Tag ist der andere tot, erstickt, das Bett wird aus dem Zimmer gestoßen, der an der Tür wird ans Fenster geschoben, er hält die Augen geschlossen, bis er alleine im Zimmer ist, dann dreht er den Kopf zur Seite und stellt fest, dass nicht mehr zu sehen ist als eine Mauer.
    Schwitter kann auf einen kleinen Park hinunterblicken, das heißt auf eine Wiese, die sich vor dem Spital erstreckt, darauf Tannen und ein paar Bänke. Bei schönem Wetter sitzen hier Patienten, oder sie gehen auf den asphaltierten Wegen und schieben Infusionsständer neben sich her. Schwitter ist froh, dass es regnet. Hinter dem Park stehen neue Reihenhäuschen, Gartensitzplatz, Plastikmöbel, Kinderschaukel, niemand zu sehen, dafür Scherenschnitte an den Fenstern. Ein Haus fällt ihm auf, der Garten ist leer, alle Läden geschlossen, scheint unbewohnt, vielleicht ist noch niemand eingezogen, ein Unglücksfall, oder die neuen Besitzer haben sich getrennt gleich nach dem Kauf, so etwas kommt vor, ein Arbeitskollege hat das durchgemacht, jahrelang hatte er mit seiner Freundin in einer Wohnung gelebt, dann kauften sie sich ein Haus, und die Beziehung zerbrach. Veränderungen muss man ganz vorsichtig einleiten, sonst gerät das Leben, ohne dass man es merkt, aus dem Lot.
    Wassertropfen gleiten die Scheibe entlang, mit dem Zeigefinger könnte Schwitter ihre Bahn nachfahren. Der Regen ist stärker geworden, er schaut genau hin, folgt mit den Augen den fallenden Tropfen, ihre regelmäßige Anordnung fällt ihm auf, wie an Schnüren sind sie aufgereiht. In letzter Zeit haben sich viele seiner Kollegen ein Häuschen oder eine Wohnung gekauft, mit dem Alter steigen Lohn und Ansprüche, oder eine Erbschaft
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