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Im Schatten des Klosters - Historischer Roman

Im Schatten des Klosters - Historischer Roman

Titel: Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
Autoren: Richard Dübell
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erkennen ist? Macht es nur die Spiegelung, dass wir das Wasser überhaupt wahrnehmen? Wo ist Wirkung, wo ist Ursache?«
    »Ehrwürdiger Vater, der Schädel …«
    Remigius blickte auf. »Ja?«
    Ulrich seufzte. »Du weißt, dass es der Falsche ist, oder?«
    Remigius nickte. Er sah ihn unverwandt an. Ulrich fühlte, wie Kälte sein Herz ergriff.
    »O Herr«, flüsterte er. »Fredegar hat ihn genommen, nicht wahr? Er wollte uns auf den Pfad des inneren Glaubens führen, und er dachte, dass der Schädel uns nur davon ablenken würde. Er dachte, die Zeit wäre reif, ihn zu nehmen, dann würden die Brüder erkennen, dass sie ihn gar nicht brauchten. Er war überzeugt, das Beste für uns zu tun.«
    »Du hast mit allem Recht – bis auf zwei Dinge, Bruder Ulrich«, sagte Remigius. Er verließ das Fass und schlenderte langsam zur Klostermauer, die hier nur halbhoch war und weniger zur Verteidigung als zur Abgrenzung diente. Dann sah er zum Fluss hinüber, zerrte seine Kutte halb heraus und ließ die Arme hängen, ohne sie zurückzustopfen. Ulrich folgte ihm mit einem dröhnenden Brausen in den Ohren und dem Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er stellte sich neben Remigius und sah, wie zwei Tränen über die schmalen Wangen des Priors rollten.
    »Ich habe ihn in den Fluss geworfen«, flüsterte er. »Fredegars behutsame Versuche, die Gemeinschaft auf den Weg von Citeaux zu bringen, waren mir zu langsam. Ich war überzeugt, die Brüder würden den Verlust verschmerzen und sich dann den zisterziensischen Regeln zuwenden. Als ich das Entsetzen in der Kapelle sah, wurde mir klar, was für einen Fehler ich gemacht hatte.«
    »Und was habe ich noch falsch gesehen?«, fragte Ulrich.
    »Ich habe es nicht zum Besten für die Gemeinschaft getan«, sagte Remigius. »Ich hatte nur mein eigenes Bestes im Sinn. Ich wollte, dass der Vater Abt auf mich aufmerksam würde, weil ich unsere Gemeinschaft so schnell unter das Dach von Citeaux geführt hatte. Ich wollte, dass er mich als würdigen Nachfolger in Erwägung zöge …«
    »Ego te absolvo«, sagte Ulrich.
    »Du vielleicht«, seufzte Remigius. »Vielleicht auch Gott der Herr. Aber ich selbst kann mich nicht freisprechen. Ich habe meinen Rücktritt eingereicht und um die Erlaubnis gebeten, eine Einsiedelei zu beziehen. Sobald die Rückantwort des Abtes kommt, werde ich die Gemeinschaft verlassen. Der Mann, den der Abt schickt, wird euer neuer Prior sein. Ich werde ihm ans Herz legen, dass er dich in allen Dingen zurate zieht.«
    »Verlass uns nicht, ehrwürdiger Vater«, flüsterte Ulrich.
    Die Glocke begann zur Vesper zu läuten. Remigius drehte sich um und ließ seine Blicke über die Klosterbauten schweifen. Durch den weiten Torzugang zum Obstgarten sah Ulrich die Brüder in einer ordentlichen Reihe zur Kirche ziehen. Jörg, Rinaldo und Barbara bildeten den Abschluss. Einige der Mönche sangen.
    »Es ist nicht wichtig, nach welchen Regeln man lebt«, sagte Prior Remigius. »Es ist nicht wichtig, woran man glaubt. Wichtig ist, dass man die Gemeinschaft aufrecht erhält und jeder seinem Mitbruder ein Hafen der Geborgenheit ist.«
    »Es ist Betrug«, stieß Ulrich hervor.
    »Nein, Bruder Ulrich. Die Dinge sind, wie wir sie sehen. Dort drin liegt der Schädel eines Unbekannten in einem Schrein. War er ein Verbrecher? War er vielleicht ein besserer Heiliger als Sankt Albo? Völlig belanglos. Was zählt, ist allein die Bedeutung, die er für den Erhalt dieser Gemeinschaft hat, und die Gemeinschaft sieht ihn als Symbol all dessen, was sie für gut und richtig und in der Gnade des Herrn empfindet. Ein Wunder ist geschehen, Bruder Ulrich. Du hast uns den Schädel von Sankt Albo wiedergebracht.«
    Ulrich sah den Prior an. Seine Blicke glitten ab und wanderten zum Fluss hinaus, der irgendwo auf seinem kühlen Grund einen kleinen, blanken Knochenschädel dahinrollte. Irgendwann würde der Schädel sich entweder verfangen und langsam zerfallen, oder der Fluss würde ihn bis zum Meer mitnehmen und dort den ewigen Gezeiten übergeben.
    Die Vesperglocke läutete in den Sommerabend hinein.
    »Wir sollten zur Messe gehen«, sagte Ulrich.
    Remigius zuckte mit den Schultern. »Lass uns noch eine Weile hier stehen. Heute werden sie uns nicht vermissen; sie haben nur Augen für Sankt Albo.«
    Ulrich betrachtete die rechteckigen Muster der Felder, sie sich diesseits und jenseits des Flusses erstreckten, bis den Horizont ein dunkler Streifen Wald begrenzte. Er hatte plötzlich eine Ahnung, wie das Kloster
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