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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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als das »europäischste« Südamerikas – ein Urteil, das sich leicht bestätigen lässt, wenn man den Fokus auf den Stand der Naturwissenschaft oder der technischen Entwicklungen lenkt, der in der Tat ein sehr hoher war. Doch all diese Errungenschaften – betreffen sie nun die Medizin, die Fortbewegung oder die Erleichterung des Alltagsleben durch Kanalisation und Elektrizität – waren vielerorts der Elite vorbehalten: In den Elendsvierteln lag die Lebenserwartung oft nur bei fünfunddreißig Jahren – und war somit eine der niedrigsten weltweit. Tausende starben an Krankheiten, die längst erforscht waren und behandelbar gewesen wären.
    Einerseits befand sich die chilenische Gesellschaft im Umbruch: Nicht zuletzt durch die Bedeutung neuer Berufszweige – zum Beispiel des Ingenieurswesens – erstarkte die Mittelklasse. Auch die demographischen Veränderungen waren enorm, kam es doch zu einer regelrechten Völkerwanderung vom Land in die Stadt und vom Süden und aus Mittelchile in den Norden. Andererseits: Was das Festhalten der Oberschicht an ihren Privilegien und ihrem Landbesitz anbelangt, lässt sich nicht auch die geringste Bewegung erkennen, und so scheint das Gesellschaftssystem als absolut starr und undurchlässig.
    Daher kam es auch in dieser Zeit zum Erstarken vieler politischer Bewegungen – sei es der Anarchismus, der Sozialismus und der Kommunismus. Es war eine Zeit der Arbeiterorganisationen und der Gewerkschaften, vieler Streiks, Demonstrationen und juristischer Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen. Sieht man allerdings auf den politischen Alltag, so scheint dieser seltsam gelähmt vom täglichen Hickhack der Parteien. So häufig es auch zum Wechsel von Präsidenten, Ministern und Koalitionen kam – Reformen vollzogen sich nur im Schneckentempo und wurden im Parlament oft jahrelang totdiskutiert.
    Das ist auch der Grund, warum man das damalige Chile sowohl als unglaublich reiches und unglaublich armes Land bezeichnen kann: Zum einen belebte der Kupfer- und Salpeterabbau nachhaltig die Wirtschaft, und Chile war hinsichtlich dieser Rohstoffe führender Exporteur. Zum anderen kam dieser Wohlstand eben nur wenigen zugute – nicht selten sogar ausschließlich den ausländischen Investoren –, während die Arbeiter im Gran Norte unter erbärmlichen Bedingungen lebten und schufteten. Die Wirtschaftspolitik lässt überdies langfristige Pläne und Perspektiven vermissen: Kaum wurde während des Ersten Weltkriegs künstliches Nitrat erfunden, war es mit dem Höhenflug vorbei und stürzte das vermeintlich aufstrebende Land in eine schwere Rezession.
    Diese Ambivalenz betrifft nicht zuletzt die Situation der Frauen: Teils fanden feministische Ideen aus Europa in Chile rasch ihre Verbreitung; sowohl bürgerliche Frauen als auch die Arbeiterinnen setzten sich für die Rechte der Frauen ein, publizierten ein enormes Spektrum an diversen Zeitschriften und Büchern und galten als die emanzipiertesten Frauen Südamerikas. Doch das hohe Engagement mündete nicht automatisch in einer veränderten Rechtslage. Bedenkt man, dass das Frauenwahlrecht in Chile erst 1938 auf nationaler Ebene durchgesetzt wurde (auf kommunaler geschah es etwas früher), kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Land hinsichtlich der Verbreitung von Frauenrechten eher hinterherhinkte, als eine Führungsrolle einzunehmen.

    Kurz und gut: Diese Epoche scheint eine Zeit zu sein, in der in Chile alles und zugleich nichts möglich schien, in der manche Frauen ein enges Korsett trugen und andere Hosen, in der die einen mit dem Automobil zum Kinematographen fuhren und andere mit der Kutsche zum Gottesdienst, in der viele ihre Kinder zur Ausbildung nach Europa und Amerika schickten, weil sie vom eigenen Land wenig erwarteten, und bei anderen Nationalstolz erwachte, der so weit ging, die chilenische Rasse zu der weitaus überlegensten Südamerikas zu deklarieren. Es ist eine Zeit also, die – je mehr Fakten man sammelt, Zeitzeugen hört, Anekdoten liest – immer undurchschaubarer wird.
    Um sie lebendig werden zu lassen, habe ich mich entschieden, diese Vielfalt an Lebensformen dadurch darzustellen, indem ich meine Figuren zu Repräsentanten unterschiedlicher Milieus und Weltanschauungen machte und auf diese Weise die großen Konflikte und Spannungen, die die Gesellschaft immer wieder zu zerreißen drohten, auf eine persönliche Ebene »herunterbrach« – nicht zuletzt, weil für alle Epochen der Weltgeschichte
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