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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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Farben der Freiheit
    1909
    1. Kapitel
    A urelia hatte keine Hand frei, um sich an der Reling festzuhalten. Mit der einen hielt sie ihre Reisetasche, in der sich neben frischer Kleidung ein wenig Geld und die Fahrkarte für die Rückfahrt befanden, mit der anderen die Mappe, die ihren kostbarsten Schatz barg. Der Wind zerrte daran, blähte obendrein ihr Kleid und drohte den Hut fortzuwehen, dessen Bänder sie am Kinn nur locker zusammengebunden hatte. Noch schlimmer als der Wind war das Gedränge. Sie fürchtete jeden Augenblick zu stolpern und zu fallen. Die Reise von Patagonien nach Valparaíso hatte zwar nur drei Wochen gedauert, doch die meisten Passagiere hatten es so eilig, an Land zu kommen, als wären es Monate gewesen. Aurelia konnte ihre Schritte nicht mehr selbst bestimmen, sondern nur ihren Besitz umklammern, sich irgendwie aufrecht halten und sich treiben lassen.
    Zunächst war ihr Blick auf Valparaíso von den vielen Köpfen verstellt, doch nachdem immer mehr Menschen vom Schiff stürmten, wurde es etwas lichter, und sie sah die Stadt, die aus der Ferne betrachtet einem riesigen Amphitheater glich. Häuser schmiegten sich eng an die Bucht, schmale Straßen führten steile Berghänge hinauf, der Ascenso Peral, der Schrägaufzug, ratterte hinauf und hinunter. Aurelia war neugierig, wie es sich anfühlen würde, damit zu fahren. Die Kabine, die herabfuhr, so hieß es, zog mit ihrem Gewicht die andere hinauf, und falls einmal zu wenige Passagiere darin saßen, wurde sie einfach mit Wassertanks beladen.
    Die Begeisterung für dieses Wunderwerk der Technik, das es im heimatlichen Patagonien natürlich nicht gab, schwand, als Aurelia die Spuren der Zerstörung sah, die das große Erdbeben von 1906 hinterlassen hatte. Obwohl das drei Jahre her war, lagen noch immer viele Häuser in Trümmern.
    Dann hatte sie keine Zeit mehr, die Stadt zu betrachten, sondern musste sich – je näher sie der Rampe kam, die zum Hafen führte – ganz auf ihre nächsten Schritte konzentrieren. Ein Ellbogen rammte sich in ihren Leib, jemand trat ihr auf die Zehen.
    »He!«, rief sie empört. Beinahe hätte sie vor Schreck ihre Mappe fallen gelassen und umklammerte sie darum umso heftiger. In der Mappe befanden sich ihre Zeichnungen – einige hatte sie aus Patagonien mitgebracht, andere während der Schiffsfahrt angefertigt, wo sie täglich neue Motive entdeckt hatte. Und wie viel es wohl erst hier in Valparaíso zu zeichnen gäbe!
    Trotz des Gedränges überkam sie hitzige Vorfreude, bis sie sich wieder in Gedanken rief, dass eine traurige Pflicht sie hierherführte. Sie seufzte. Natürlich hatte sie großes Mitleid mit Victoria, und es würde nicht leicht sein, ihr Trost zu spenden, dennoch blieb die weite Reise das größte Abenteuer ihres Lebens. Vierundzwanzig Jahre währte dieses, und all die Zeit hatte sie in Patagonien gelebt, wo es nie so viele Menschen wie hier zu sehen gab, nicht dieses weiche, warme Licht, nicht diesen Reichtum an Farben. Der Wind war hier genauso lästig wie dort, und doch, als sie nun die Rampe betrat und auf den schmalen Holzbrettern das Schiff verließ, überkam sie ein Gefühl von Freiheit. Kurz verhießen die vielen drängenden Leiber nicht nur Lärm und Geschäftigkeit, sondern Lebendigkeit und einen neuen Anfang.
    Als sie endlich auf festem Boden stand, bebten ihr die Knie. Sie sollte abgeholt werden, aber es war kein Treffpunkt vereinbart worden, und während sie stehen blieb und suchend um sich sah, fiel ihr Blick auf eine Familie. Drei Söhne scharten sich um ihre Eltern, wirkten nicht minder aufgeregt als sie selbst, starrten in sämtliche Richtungen und stellten wissbegierig Fragen zu der Stadt, die man die Perle des Pazifiks nannte. Obwohl sie noch viel kleiner waren, erinnerten die Buben Aurelia an ihre drei Brüder. Wie oft hatte sie sie gezeichnet, und wie gerne würde sie nun auch diese Familie festhalten!
    Derart im Anblick der Fremden versunken, merkte sie nicht, dass sie einem Mann im Weg stand. Er versetzte ihr einen schmerzhaften Stoß, als er an ihr vorbeihastete, und anders als bisher konnte sie ihr Gleichgewicht nicht wahren. Sie stolperte, fiel auf die Knie und ließ für einen Augenblick die Tasche fallen. Als sie sich danach bückte, um sie wieder zu ergreifen, rutschte ihr der Hut vom Kopf, und es fielen ihr die langen Haare ins Gesicht – die glatten, schwarzen, glänzenden Haare, die sie von ihrer Mutter Rita, einer halben Mapuche, geerbt hatte. Obwohl sie nichts mehr
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