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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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erkennen konnte, bekam sie die Tasche dennoch zu fassen, aber in diesem Augenblick erfasste sie ein neuerlicher Windstoß und fegte ihr die Mappe mit den Zeichnungen aus der Hand.
    »Verflucht!«, schrie sie.
    Zart und klein wie ein Mädchen sei sie, spottete ihr Stiefvater Balthasar oft gutmütig, und so hübsch, dass man von ihrem Anblick blind zu werden drohte, aber fluchen könne sie so herzhaft wie ein Mann.
    Aurelia schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und sah, dass die Mappe aufgerissen war und die Zeichnungen immer weiter von ihr fortgeweht wurden. Die drei Knaben, die sie beobachtet hatten, deuteten darauf und lachten. Geschwind flitzte sie den Bildern nach, bekam Papier um Papier zu fassen – ein Porträt ihrer Mutter, ein Landschaftsbild von Patagonien, eine Skizze vom Deck des Schiffs. Der Wind schien sie zu necken, ließ sie ganz nahe an weitere Blätter herankommen und wirbelte sie im letzten Augenblick davon. Erst nach einiger Zeit schien ihm das Spiel zu langweilig zu werden, und er ließ von ihnen ab. Als Aurelia endlich alle Zeichnungen eingesammelt hatte, war sie schweißüberströmt. Sie setzte ihren Hut auf, blickte sich um – und erschrak.
    Die Angst um ihre Bilder hatte sie so sehr vereinnahmt, dass sie nicht weiter auf ihre Tasche geachtet hatte, und diese lag nun nicht mehr auf dem staubigen Boden des Hafens. Ein Fremder hielt sie an sich gerafft und lief durch die Menge davon.

    Wut gleißte wie eine Flamme in ihr auf. Sie achtete weder auf ihre offenen Haare noch den erneut verrutschten Hut, sondern hastete dem Mann hinterher, der sich offenbar sicher genug fühlte, um kurz stehen zu bleiben und die Tasche zu durchwühlen. Eines jener russischen Schimpfworte, die sie von Ana, einer Freundin ihrer Mutter, gelernt hatte, kam Aurelia über die Lippen, und obwohl es im Trubel des Hafens laut war, fühlte der Dieb sich angesprochen. Er hob den Kopf, blickte kurz entgeistert in ihr zornverzerrtes Gesicht und floh dann hastig, indem er sich grob an den Menschen vorbeidrängte, die ihm den Weg verstellten. Aurelia war nicht ganz so grob, aber dennoch so schnell wie er.
    Sie wurde blind für die fremde Stadt, sah nur den Mann, ihre Tasche und den Boden unter ihren Füßen. Schon hatten sie den Hafen verlassen und die Planchada erreicht, die schlecht gepflasterte Hauptstraße, die von einer Staubschicht bedeckt war. Etwas weniger Menschen verstellten ihr hier den Weg, stattdessen hielten sie mehrere Fuhrwerke auf, die sie unter den Flüchen der Kutscher umrundete.
    Endlich holte sie den Mann ein, umkrallte die Tasche und zog mit aller Macht an ihr. Leider war der Dieb dreister als erwartet. Anstatt sie prompt loszulassen, hielt er die Beute fest und versetzte ihr mit der freien Hand einen Stoß. Als seine Faust sie auf der Brust traf, stockte ihr der Atem. Eben noch war die Wut ihr stärkstes Gefühl gewesen, nun wich sie erst dem Schmerz, dann der Ohnmacht und schließlich einer unliebsamen Erinnerung – der Erinnerung daran, was ihr einst als kleines Mädchen zugestoßen war. Stark, unbesiegbar, selbstsicher hatte sie sich zuvor gefühlt – nach all den Ängsten, die sie dann aber hatte ausstehen müssen, war sie lange Zeit nur ein Schatten ihrer selbst geblieben. Wie gelähmt hatte sie sich damals gefühlt – wie auch in diesem Moment.
    Ihr Griff lockerte sich, der Dieb entriss ihr mit einem Ruck die Tasche und rannte davon. Als er sich ein letztes Mal umdrehte, glaubte sie ihn grinsen zu sehen, doch obwohl die Wut nun zurückkehrte und sie drohend die Faust erhob, war sie unfähig, auch nur einen Schritt zu machen.
    Der Triumph des Mannes währte allerdings nicht lange. Nach kaum fünf Schritten ragte wie aus dem Nichts eine Hand auf und packte ihn. Sie sah einen Mann, nicht sonderlich groß, aber breit, dann ein Gerangel, bei dem die beiden Körper zu verschmelzen schienen, schließlich eine Faust auf den Dieb eindreschen. Die Tasche entglitt ihm, ehe er zu Boden ging und sich stöhnend wälzte. Es gelang ihm zwar, sich aufzurappeln, aber er versuchte gar nicht erst, die Tasche noch einmal an sich zu bringen, sondern hastete stolpernd davon.
    Erst als der fremde Retter in der Not auf sie zutrat, konnte sich Aurelia aus der Starre lösen. Sie war viel zu aufgeregt, um den Mann zu mustern, sondern griff nur hastig nach der Tasche, die er ihr reichte. Die Erinnerungen an das, was ihr als Kind widerfahren war, verblassten.
    »Gott sei Dank …«, stammelte sie.
    »Sie sollten besser
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