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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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auf dem Cerro Alegre lag – einem Berghang knapp einhundertfünfzig Meter über Valparaíso, wo die Luft deutlich besser war als in der Tiefebene. Der gegenüberliegende Cerro Concepción dagegen war vorwiegend von den Engländern besiedelt.
    Aurelia überlegte schon, ob sie ihre Frage wiederholen sollte, als Elvira plötzlich auf ein Gebäude deutete und wütend ausstieß: »Erst letzten Monat ist sie dort rausgeflogen!«
    Das Gebäude war offenbar eine Schule. Noch mehr als über den Rauswurf war Aurelia darüber überrascht, dass Victoria überhaupt eine besuchte. Immerhin war sie schon sechzehn, und Mädchen besuchten ihres Wissens niemals die Oberstufe.
    »Warum ist sie rausgeflogen?«
    »Sie hat es noch nie lange auf einer Schule ausgehalten, weder in der des Ursulinenkloster noch in der Privatschule von Doña Julia Cabezón. Nun bleibt nur noch die staatliche Mädchenschule in Viña del Mar. Aber da leben wir nun mal leider nicht. Ludwig, wir sollten uns wirklich überlegen …«
    Aurelia hörte Elvira nicht länger zu, als diese aufs Neue sämtliche Gründe aufzählte, warum es besser war, in Viña del Mar zu leben und nicht in Valparaíso. Sie selbst hatte nie eine Schule besucht, jedoch von ihrem Stiefvater Balthasar zeichnen und malen gelernt sowie zu schreiben, zu rechnen und wie man Schafe züchtete. In Punta Arenas gab es zwar eine Schule für die Kinder englischer Schafzüchter, aber die Strecke dorthin wäre zu weit gewesen, um sie täglich zurückzulegen. Manchmal hatte sie es bedauert, diese Schule nicht zu besuchen, denn es hieß, man würde dort auch singen und Klavier spielen lernen, und beides hätte sie zu gerne gekonnt. Allerdings war ihr nichts jemals annähernd so wichtig gewesen wie die Malerei, und der hatte sie sich immer hingeben können. Unwillkürlich drückte sie die Mappe mit ihren Bildern an die Brust.
    Deine Bilder … du solltest sie wirklich jemandem zeigen, der etwas davon versteht … die Escuela de Bellas Artes …
    Sie hörte Tiagos Stimme ganz deutlich in ihrem Ohr, vor allem aber sah sie sein Lächeln vor sich, seine blauen Augen, seine …
    Der Wagen machte einen so abrupten Ruck, dass Aurelia fast nach vorne geschleudert wurde.
    »So, wir sind da!«, verkündete Elvira. Noch ehe Aurelia das Haus der Hoffmanns mustern konnte, ja, noch ehe sie überhaupt aus dem Gefährt stieg, kam ihnen eine Frau entgegengestürzt, der weißen Schürze und der adretten Haube nach zu urteilen ein Dienstmädchen oder gar die Haushälterin. Sie hatte ihre Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
    »Sie ist schon wieder fort!«, schrie sie aufgeregt.
    Elvira und Ludwig seufzten wie aus einem Mund.
    Aurelia war sofort klar, dass von Victoria die Rede sein musste.
    »Dieses Mädchen treibt mich in den Wahnsinn!«, rief Elvira, und zum ersten Mal sekundierte ihr Ludwig Kreutz: »Wir müssen jetzt andere Saiten aufziehen. Dieses Verhalten können wir uns nicht länger bieten lassen!«

    Aurelia gab vor, dass sie müde war und keinen Hunger hatte, und entging so einem Abendessen, in dem Elvira weitere Klagereden führen würde. Stattdessen brachte das Dienstmädchen sie in das Zimmer, das für sie vorbereitet worden war. Sie sah nicht viel vom Haus, weder die Geschäftsräume, in denen sich die Apotheke befand, noch die Küche, das Speisezimmer und Wohnzimmer im Erdgeschoss, sondern nur ihr Schlafzimmer und den Salon im ersten Stock. Sie waren viel größer als die Räume der Estancia in Patagonien, viel eleganter eingerichtet – mit schweren Teppichen, Lüstern und Seidentapeten –, und wirkten dennoch kalt und verwaist.
    Aurelia vernahm von unten ein Gemurmel; offenbar diskutierten Elvira und Ludwig darüber, wie sie mit Victorias neuerlichem Verschwinden umgehen sollten. Sie konnte sich aus den Wortfetzen keinen Reim machen, wo Victoria sich wohl gerade aufhielt, und schloss schließlich die Tür, um sich aufs Bett zu legen.
    Die Stille, die sie umgab, setzte ihr bald zu. Sie hatte sich selten so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick – nicht einmal auf dem Schiff, wo sie zwar nur von Fremden umgeben, wo aber immer etwas los gewesen war. Wie musste sich Victoria in diesem Haus fühlen? So ganz ohne Geschwister! Und nachdem sie ihre Eltern fast gleichzeitig verloren hatte!
    Ihr Vater, Arthur Hoffmann, war beim Erdbeben 1906 schwer verletzt worden und hatte sich seitdem nicht mehr erholt. Er konnte kaum laufen, hatte stets unter Schmerzen im Rücken zu leiden, die ihn über Wochen
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