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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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hatte, hatte es durchs Fenster getan und stand nun hinter ihr. Ehe sie sich umdrehen konnte, legte sich eine Hand auf Aurelias Mund.
    »Psst!«, ertönte es mahnend. »Keinen Mucks!«

2. Kapitel
    A urelia erstarrte. Der Schrecken überlief sie eisig kalt. Unwillkürlich fühlte sie sich an den Dieb erinnert, der heute ihre Tasche gestohlen und sie dabei unsanft zurückgestoßen hatte. Allerdings fiel dieser Griff nicht so brutal aus. Schon löste sich die fremde Hand von ihrem Mund.
    Aurelia fuhr herum. »Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?«, brach es aus ihr heraus.
    »Pst«, machte Victoria wieder. »Ich bin eigens die Efeuleiter hochgeklettert, damit Elvira und Ludwig mich nicht sehen. Soll diese Mühe umsonst gewesen sein?«
    Ein Efeublatt hatte sich in ihrem Haar verfangen, ansonsten aber saß die Frisur perfekt. Diese hatte nichts Kindliches, Jugendliches an sich: Die Haare waren in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem festen Knoten geflochten worden. Sehr streng mutete das an – ein Eindruck, der vom schwarzen, etwas unförmigen Kleid, das Victoria trug, noch unterstrichen wurde. Aurelia trug selbst meist schlichte Kleidung – auf der Estancia war es vor allem wichtig, sich praktisch zu kleiden. Aber sie hatte erwartet, dass die Tochter eines wohlhabenden Apothekers ein elegantes Kleid tragen würde, aus Seide, Musselin oder gar Samt. Insgeheim hatte sie sich sogar erhofft, hier in Valparaíso vielleicht einmal selbst in das Kleid einer feinen Frau schlüpfen zu können, aber von Victoria war eine solche Leihgabe wohl nicht zu erhoffen.
    Aurelia musterte ihr Gesicht, stellte fest, dass sie sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert hatte, und fand nicht viele Ähnlichkeiten mit ihren Eltern. Beide hatten sie blondes Haar und helle Augen gehabt – Victorias Haar dagegen war von einem matten Braunton, und die Augen hatten die Farbe der Haselnuss. Ihre Haut war blass, nur auf der Nase saßen ein paar kecke Sommersprossen.
    Victoria, die ihren wachen Blick erst erwidert hatte, drehte sich nun um und deutete auf die Bücher und Briefe auf ihrem Schreibtisch: »Hast du darin gelesen?«
    Aurelia errötete. »Es tut mir leid, ich wollte nicht indiskret sein, aber da du nicht da warst und ich nicht wusste, ob …«
    »Oh, ich bin froh, dass du lesen kannst!«, unterbrach Victoria sie erfreut. »So viele Chilenen können es nicht, höchstens ein Drittel der Bevölkerung, denk dir das. Dabei ist das Vermögen, zu lesen und zu schreiben, der erste Schritt der Frau in die Freiheit.«
    Aurelia begriff nicht recht, was sie meinte. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie schließlich.
    »Ich komme gerade aus der Armensiedlung und habe Brot verteilt«, antwortete Victoria bereitwillig. »Der Bäckerjunge, ein Deutscher wie mein Vater, ist manchmal sehr großzügig. Er hat heute gleich drei Laibe Schwarzbrot gespendet.« Victoria verdrehte die Augen – ein Zeichen, dass ihre Worte nicht ernst, sondern ironisch gemeint waren und sie drei Laibe für eine lächerlich geringe Gabe hielt. »Nun, man muss nehmen, was man kriegt. Die Empanadera in der Quebrada de Elias gibt auch manchmal was ab – alle Empanadas nämlich, die verbrannt sind und die man der feinen Kundschaft nicht vorsetzen kann.« Als sie das Wort »fein« aussprach, zog sie ihre rechte Augenbraue spöttisch nach oben. »Aber seit meine Eltern tot sind, ist es schwieriger geworden – Essen zu bekommen, meine ich. Die meisten rücken nichts raus. Und schon gar nicht Elvira und Ludwig! Ich meine, unsere Speisekammern sind prall gefüllt, und trotzdem können sie nicht auf den kleinsten Brotkrumen verzichten.«
    Sie sprach in gleichem Tonfall vom Tod ihrer Eltern wie von den gespendeten Nahrungsmitteln – sehr nüchtern, fast gleichgültig. Ihre Stimme war nicht laut, aber eindringlich.
    Nachdem sie geendet hatte, senkte sich kurz Schweigen über die beiden. Aurelia ging auf, dass sie sich nicht einmal ordentlich begrüßt hatten, doch Victoria schien nicht sonderlich daran interessiert zu sein und fragte auch nicht, wie ihre weite Reise verlaufen war. Sie wandte sich ab und blickte nachdenklich aus dem Fenster.
    »Meine Eltern«, setzte Aurelia an, »meine Eltern schicken dir ihre besten Grüße. Und sie möchten dich gerne einladen, nach Patagonien zu kommen, um dort …«
    Abrupt drehte sich Victoria um. »Ich muss noch einmal weg«, erklärte sie schroff.
    Aurelia trat neben ihr ans Fenster. Sie befanden sich zwar nur im ersten
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