Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
Vom Netzwerk:
Stock, aber wenn die Efeuleiter, die Victoria hochgeklettert war, brach und man in die Tiefe stürzte, konnte man sich sicher schlimme Verletzungen zufügen.
    »Noch einmal weg?«, wiederholte sie fassungslos.
    Victoria stützte sich aufs Fensterbrett. »Ich bringe nicht nur Essen in die Armensiedlung, sondern auch Medikamente. Auch das ist viel schwieriger geworden, seit Elvira und Ludwig meine Vormünder sind. Meine Eltern haben immer bereitwillig ihre Arzneien verteilt.«
    »Elvira war sehr wütend, dass du das Haus verlassen hast!«, gab Aurelia zu bedenken.
    Wieder zog Victoria ihre rechte Augenbraue hoch. »Gewiss doch!«, stieß sie voller Spott aus. »Sie hatte eine klare Vorstellung, wie Wohltätigkeit auszusehen hat. Nie würde sie den Armen und Kranken zu nahe kommen. Das Äußerste, zu dem sie sich aufraffen kann, ist, an den Basaren der deutschen Kolonie teilzunehmen. Der Erlös wird gespendet, und ich sage ja nicht, dass wir ihn nicht brauchen können. Aber dieser Basar findet nur viermal im Jahr statt, und die Armen brauchen viel öfter Zuwendungen! Sie leben in Zeltstädten, weißt du – all die Menschen, die beim großen Erdbeben ihre Häuser verloren und die nicht genügend Geld haben, sie wieder aufzubauen.«
    Sie lehnte sich aus dem Fenster, blickte nach rechts und links, um zu sehen, ob sie beobachtet wurde.
    »Du willst tatsächlich wieder da runterklettern?«
    »Ich bin verabredet – am Denkmal des Arturo Prat. Dort treffe ich einen Mittelsmann, der die Medikamente in die Siedlung bringen wird.«
    »Und woher bekommst du die Medikamente?«
    »Genau das ist das Problem. Elvira und Ludwig lassen mich nicht mehr in die Apotheke meiner Eltern, weil sie behaupten, dass ich stehlen würde. Stehlen, du lieber Himmel! Sie ist doch mein künftiges Erbe. Wie dumm, dass ich zu jung bin, es anzutreten. Aber da gibt es einen Arzt im deutschen Hospital. Es liegt gleich an der Ende der Straße, und manchmal überlässt er mir etwas Medizin.«
    Aurelia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, was sie tun sollte. Victoria davon abhalten, aus dem Fenster zu klettern? Oder wieder den Wunsch ihrer Eltern aussprechen, sie nach Patagonien zu bringen?
    Sie ahnte, dass ihr eine schwere Aufgabe bevorstand, und entschied, vorerst lieber auf Victoria einzugehen, anstatt das eigene Anliegen vorzubringen. »Um welche Medikamente handelt es sich denn?«
    »Vor allem Tuberkulin. Robert Koch hat es erfunden. Es heißt, es sei das einzige Medikament, das Tuberkelbazillen aufzuhalten imstande ist, man nennt es auch das Kochsche Präparat. Ich bin mir ja nicht so sicher, ob es wirkt. Andere Ärzte übrigens auch nicht. Hier an der Deutschen Klinik forscht Eduard Theodor von Schröder nach einer neuen Behandlungsmethode, aber noch hat er keine gefunden, und bis dahin müssen wir eben das Kochsche Präparat verteilen. Immerhin ist die Krankheit nun frühzeitig erkennbar, seit letztes Jahr die intrakutane Tuberkulinprobe erfunden wurde.«
    Sie sprach die vielen Fremdwörter ganz selbstverständlich aus, als hätte sie sich ihr Leben lang mit nichts anderem als Krankheiten und Behandlungsmethoden beschäftigt. Aurelia war mit ihren vierundzwanzig Jahren acht Jahre älter als Victoria – aber als diese so ernsthaft sprach, hatte sie den Eindruck, es wäre umgekehrt. Dass sie immer wieder von den Schulen geflogen war, lag ganz offensichtlich nicht an fehlendem Intellekt oder mangelnder Lernbereitschaft, sondern an ihrem Charakter.
    »Du weißt sehr viel«, stellte sie fest. »Aber woher hast du denn all diese Bücher?«
    »Der Deutsche Verein hat einst in der Calle Blanco einen großen Lesesaal mit in- und ausländischen Journalen, deutschen, spanischen und französischen Klassikern eröffnet. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Leider gibt es dort kaum medizinische oder politische Schriften. Die schickt mir Nora van Sweeten aus Hamburg, sie gehört irgendwie zur Familie meines Vaters, ich weiß auch nicht, auf welche Weise. Sie arbeitet in einem Krankenhaus, und das würde ich auch so gerne tun.«
    Sie seufzte sehnsüchtig, und der Glanz, der in ihren Augen erschien, nahm ihr kurz alle Strenge.
    »Aber du sollst doch mit mir nach Patagonien kommen …«, warf Aurelia unsicher ein.
    Victoria überhörte es geflissentlich. »Elvira und Ludwig ist es eigentlich egal, was ich tue. Sie haben nur Angst, dass ich das Erbe meiner Eltern verschwende – das wollen sie bis zu meiner Volljährigkeit lieber selbst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher