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Im Schatten der Mitternachtssonne

Im Schatten der Mitternachtssonne

Titel: Im Schatten der Mitternachtssonne
Autoren: Catherine Coulter
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sprechen«, sagte sie nun. Verzweifelt darüber, daß dieser Fremdling in ihr innerhalb so kurzer Zeit unbekannte, lodernde Gefühle hervorrief. Sie wußte nicht, wie sie mit dem Fremden umgehen sollte. Sie schwieg unschlüssig, angstvoll, und das blieb ihm nicht verborgen. Sie wandte den Blick, verlegen und verwirrt. »Ich muß mit meinem Stiefvater sprechen«, wiederholte sie.
    Nun lächelte er und kostete seinen Triumph, seinen Sieg aus. Er hatte sie erwählt, und sie würde zu ihm kommen. Er hatte ihr seine Absichten deutlich gemacht, ohne etwas zu beschönigen, und sie hatte sich ihm gebeugt. Er war sich seiner Sache sicher und mit sich zufrieden. »Sehr gut. Ich habe Geduld, Zarabeth. Ich treffe dich morgen hier nach deiner christlichen Morgenmesse.«
    Sie starrte ihn schweigend an. Er hingegen lächelte, seine Fingerspitzen berührten zart ihr Kinn. Er beugte sich über sie und hauchte einen zarten Kuß auf ihre geschlossenen Lippen. Dann war er weg, schritt über den Coppergate Platz, als gehöre er ihm, als seien die Bewohner dieser Stadt seine Untertanen.
    Sie stand reglos und verwundert, bis er verschwunden war. Ein paar Frauen kamen auf sie zu. Rasch wandte sie sich um und entfernte sich eilig. Sie wollte keine ihrer neugierigen Fragen hören. Mit Sicherheit würden sie wissen wollen, was der Barbar von ihr wollte.
    Und er war ein Barbar. Das durfte sie nicht vergessen. Und er war grausam, schon allein deshalb, wie er seine Gefährtin behandelte. Zarabeth war Christin wie ihre kleine Schwester Lotti. Und sie hatte sich geschworen, wenn sie einmal heiratete, würde Lotti mit ihr gehen, denn Lotti gehörte seit ihrem zweiten Geburtstag ihr, seit dem Tag, an dem ihre Mutter gestorben war. Der Tag, an dem Olav zu Zarabeth sagte, ihre Mutter habe Lotti genommen und sei mit einem anderen Mann fortgelaufen. Olav war ihnen nachgereist.
    Er hatte berichtet, ihre Mutter sei an den Folgen eines Schlages gestorben, den der andere Mann ihr versetzt hatte. Aber warum sollte dieser Mann ihrer Mutter so etwas antun? War er nicht mit ihr fortgegangen? Hatte er sie nicht geliebt? Zarabeth konnte die Zusammenhänge nicht begreifen, aber sie hatte den Haß gesehen, die Gewalt in den Augen ihres Stiefvaters, und sie hatte geschwiegen. Ihre Mutter war tot. Das Haar blutverklebt — Blut war ihr aus Nase und Mund gelaufen, das hatten die Nachbarsfrauen einander zugetuschelt. Ihre Mutter war tot, seit langem tot. Ihre schöne Mutter, die Zarabeth geliebt hatte; ihre Mutter, die Lotti mitgenommen und sie zurückgelassen hatte.
    Zarabeth verscheuchte die bösen Erinnerungen. Sie lagen in der Vergangenheit, waren tot wie Sommerasche. Es war sinnlos, ihnen nachzuhängen, denn niemand konnte ihr Näheres darüber berichten, niemand außer Olav. Und sie würde niemals mit ihm über die Vergangenheit reden. Olav war der Ansicht, sie sei an die Stelle ihrer Mutter getreten. Doch sie würde nicht fortlaufen, wie ihre Mutter es getan hatte. Sie gehörte zu ihm, wie jedes Kind zu seinem Vater gehörte.
    Doch nun war dieser Wikinger in ihr Leben getreten.

3
    Olav beobachtete seine Stieftochter, während er an seinem Roggenfladen kaute, den sie mit gebratenen Rindfleischstreifen zum Nachtmahl bereitet hatte. Der Fladen war kross und würzig, und dennoch kaute er mißmutig darauf herum. Das Essen lag ihm schwer im Magen. Er ließ Zarabeth nicht aus den Augen. Jetzt fütterte sie ihre kleine Schwester, diese verfluchte Mißgeburt, die Olav in den Abflußgraben hätte werfen sollen, an jenem Tag, als er feststellte, wessen Lenden sie entsprungen, und was aus ihr geworden war. Das Kind war schwachsinnig, aber Zarabeth weigerte sich, das hinzunehmen. Er hätte sie damals töten sollen, das hatte er versäumt. Und nun konnte er sie nicht mehr töten. Zarabeth liebte die kleine Idiotin, und er wußte tief im Innern, wenn er dem Mädchen etwas zuleide tat, würde Zarabeths Zorn sich gegen ihn richten. Vielleicht würde sie ihn sogar töten. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken.
    Viel wohler war ihm der Gedanke, sie in seinem Bett zu haben.
    In ihr floß kein Tropfen von seinem Blut. Sie war nichts als irischer Dreck wie ihre Mutter; Dreck, aber keine Hure wie Mara. Er wollte sie in seinem Bett haben, und zwar bald. Und wenn er ihrer überdrüssig war, würde er sie vielleicht auf dem Sklavenmarkt in Dublin verkaufen, sie und die kleine Mißgeburt, verfluchte Pest. Vielleicht würde er nicht in York bleiben. Vielleicht würde er sie auch heiraten
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