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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman
Autoren: Mikkel Birkegaard
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EINS
    L uca Campellis Wunsch, umgeben von seinen geliebten Büchern zu sterben, ging an einem späten Oktoberabend in Erfüllung.
    Natürlich ist das einer dieser Wünsche, die nie konkret ausgesprochen oder gedacht werden, aber jeder, der Luca in seinem Antiquariat gesehen hatte, wusste, dass es gar nicht anders sein konnte. Er bewegte sich zwischen den Bücherstapeln seines kleinen Ladens »Libri di Luca« wie in seinem Wohnzimmer und führte jeden Kunden ohne zu zögern exakt zu dem Regal oder Stapel, in dem das gewünschte Buch steckte. Lucas Liebe zur Literatur offenbarte sich jedem Kunden schon nach wenigen Sätzen, und dabei war es vollkommen unwesentlich, ob es sich um ein abgenutztes Taschenbuch oder eine seltene Erstausgabe handelte. Ein solches Wissen zeugte von einem langen Leben mit Büchern, und Lucas Autorität und Souveränität, die er zwischen den Regalen des Antiquariates an den Tag legte, machten es einem schwer, ihn sich außerhalb der vertrauten Atmosphäre aus gedämpfter Andächtigkeit vorzustellen.
    Deshalb war dieser Abend etwas Besonderes, denn abgesehen davon, dass es Lucas letzter sein sollte, war eine ganze Woche vergangen, seit er zuletzt einen Fuß in sein Antiquariat gesetzt hatte. Voller Vorfreude fuhr er mit dem Taxi direkt vom Flughafen zu seinem Laden in Vesterbro in Kopenhagen. Während der Fahrt konnte er kaum stillsitzen, und als der Wagen endlich anhielt, hatte er es so eilig, das Taxi zu verlassen, dass der Fahrer ein mehr als großzügiges Trinkgeld bekam, damit
er nicht noch lange Wechselgeld heraussuchen musste. Erfreut hob der Fahrer Lucas zwei Koffer aus dem Kofferraum und ließ den alten Mann alleine auf dem Bürgersteig stehen.
    Das Geschäft lag im Dunkeln und sah alles andere als einladend aus, trotzdem lächelte Luca beim Anblick der vertrauten Fassade mit den gelben Buchstaben »Libri di Luca« auf den Schaufenstern. Er schleppte seine Koffer die wenigen Meter über den Bürgersteig zum Eingang und wuchtete sie auf den Treppenabsatz. Der Herbstwind fuhr unter seinen Mantel, als er ihn aufknöpfte, und ließ die Schöße unruhig flattern, als er mit der Hand in die Innentasche fuhr, um den Schlüssel hervorzuholen.
    Das Klingeln der Glocke über der Tür hieß ihn zu Hause willkommen, und er beeilte sich, die Koffer auf den dunkelroten Teppichboden zu ziehen und die Tür zu schließen. Er richtete sich auf, blieb mit geschlossenen Augen stehen, atmete tief ein und genoss den vertrauten Duft von vergilbtem Papier und altem Leder. Ein paar Sekunden blieb er so stehen, bis das Klingeln der Glocke vollends verstummt war. Erst dann schlug er die Augen wieder auf und schaltete den Kronleuchter unter der Decke ein, obgleich das eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Nach 50 Jahren in den immer gleichen Räumlichkeiten hätte er sich ohne Probleme auch im Dunkeln zurechtgefunden. Trotzdem drückte er alle Schalter auf der Lichtleiste hinter der Tür, so dass auch die Regalbeleuchtungen und die Lampen in den Vitrinen auf der Galerie eingeschaltet wurden.
    Er trat hinter den Kassentresen und zog den Mantel aus. Dann nahm er eine Flasche und ein Glas aus dem Schrank und goss sich etwas Cognac ein. Mit dem Glas in der Hand stellte sich Luca in die Mitte seines hell erleuchteten Ladens und sah sich zufrieden lächelnd um. Ein Schlückchen der goldenen Flüssigkeit machte den Augenblick perfekt, und er nickte vor sich hin und atmete tief durch.

    Mit dem Glas in der Hand ging er langsam an den Regalen entlang und studierte die Bücherreihen. Jemand anderes hätte die Veränderungen der letzten Woche sicher nicht bemerkt, aber Luca entging nichts. Manche Bücher waren verkauft, andere anders eingeordnet worden, es waren neue Werke zwischen die alten geschoben und ganze Stapel bewegt worden. Auf seiner Inspektionsrunde stellte Luca einige Bücher um, die falsch eingeordnet waren, und richtete die Rücken so aus, dass sie wie mit dem Lineal ausgerichtet nebeneinander standen. Zwischendurch stellte er sein Glas vorsichtig ab, um ein Buch herauszunehmen, das er noch nicht kannte. Neugierig blätterte er darin, studierte den Schriftsatz und erkundete mit den Fingern die Textur des Papiers. Zu guter Letzt schloss er die Augen und hielt es sich dicht unter die Nase, um den ganz eigenen Duft der Seiten aufzunehmen, als handle es sich um einen besonderen Jahrgangswein. Nachdem er noch einmal Titelseite und Einband studiert hatte, stellte er das Werk vorsichtig wieder zurück, zuckte
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