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Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin

Titel: Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin
Autoren: Hans Bankl
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Menschen, scheu und neugierig zugleich, die sich ein wenig umsah: Dort erblickte sie das Bild eines ihrer Kameraden, hier die durchlöcherte blaue Arbeitsjacke eines anderen, daneben Werkzeug und alles, was sonst noch mit Stromunfällen zu tun hat. Die Gruppe bestand aus Elektrizitätsarbeitern, die vom Gründer des elektropathologischen Museums, Stefan Jellinek (1871-1968), eigens eingeladen worden waren, denn das Museum stellte etwas Besonderes dar, es gab kein zweites dieser Art auf der Welt. Es war eben diesen Elektrizitätsarbeitern gewidmet und erzählte von den Gefahren ihrer Arbeit, von den Unfällen, von ihrem Tod und auch ihrer Errettung. Das elektropathologische Museum war die medizinische Chronik ihres Berufsstandes.
     
    Die Geschichte der Elektropathologie begann im Jahre 1899 in Wien. In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Glühlampe zur Beleuchtung eingeführt, 1883 eröffnete Kronprinz Rudolf in Wien die »Elektrische Ausstellung« mit einer berühmt gewordenen Rede, welche mit einem bekannten Zitat endete:
»... ein Meer von Licht strahle aus dieser Stadt und neuer Fortschritt gehe aus ihr hervor.« Hand in Hand mit diesem Fortschritt ging aber auch die Gefahr, die Kraft der Elektrizität war noch nicht gezähmt, die Medizin musste auch erst lernen, damit umzugehen. Der junge jüdische Arzt Stefan Jellinek machte es sich zur Lebensaufgabe, das Neuland der Elektropathologie zu erforschen. 1899 begann er sowohl in Selbstversuchen wie auch gemeinsam mit Wiener Elektrizitätsarbeitern, die Folgen der Stromwirkung zu studieren. Systematisch und planmäßig fing er an, alles zu sammeln, was mit elektrischen Unfällen, Verletzungen und Todesfällen zu tun hatte. Kabel und Schaltkontakte, Isolatoren und Sicherungen, Haushaltsgegenstände und Industriewerkzeuge, dazu noch die medizinischen Präparate der Verletzungen. Nur ein kleiner Arbeitsplatz im Institut für Gerichtliche Medizin stand Jellinek am Anfang zur Verfügung, doch die Ergebnisse seiner Forschungen waren sensationell und brachten ihm Weltruhm.
    Drei Grundsätze der Elektromedizin hat er erarbeitet:
    1. Bisher hatte man angenommen, die tödliche Wirkung des Stromes lasse sich genau bestimmen. 300 Volt Wechselstrom und 500 Volt Gleichstrom galten als absolut tödlich. Das wirkte sich unheilvoll aus. Oft hieß es an einem Unfallort: »Was, 5000 Volt Spannung habt ihr hier? Absolut tödlich!« und man versuchte gar keine Rettungsmaßnahmen mehr. Jellinek bewies z. T. mit Selbstversuchen, dass auch hohe Spannungen und hohe Stromstärken unter bestimmten Voraussetzungen überlebt werden können. Vor allem war das Wissen um einen eventuellen Stromschlag für die Betroffenen wichtig. »Strombereitschaft« nannte er es und begann mit diesbezüglichen Schulungen der Arbeiter.
    2. Viele Opfer elektrischer Unfälle waren zu Krüppeln geworden, weil man früher die verletzten Extremitäten rasch und großzügig amputiert hatte. Jellinek beobachtete, dass man
warten konnte, denn die gefürchteten Komplikationen, wie sie bei gewöhnlichen Verbrennungen auftraten, blieben aus. Es entstand Narbengewebe statt Wundbrand, es kam zur Abheilung statt zur Infektion, die verletzten Gliedmaßen konnten erhalten bleiben. Dies war wiederum eine praktische Konsequenz von segensreicher Bedeutung, die aus der Elektropathologie erwuchs.
    3. Oft stürzten Verunfallte nach einem Stromschlag wie leblos zu Boden. Lange Zeit nahm man dabei an, die Leute wären tatsächlich tot. Ernst Jellinek bewies, dass ein Stromschlag häufig zu einer Art Scheintod führt, Wiederbelebungsmaßnahmen daher wichtig sind und Erfolg haben können. Sein Lehrsatz lautete: »Beim Stromunfall so lange Reanimationsversuche anstellen, bis Totenflecken auftreten - erst dann darf man aufgeben!« Er setzte dem Fatalismus des Bedauerns den therapeutischen Aktivismus entgegen und hatte Erfolg. Unzähligen Menschen wurde dadurch das Leben gerettet. Hatten früher die Ärzte am Unfallort nur die Rolle des Totenbeschauers gespielt, so versuchten sie jetzt durch oft stundenlange Beatmung und Herzmassage die Scheintoten wieder zum Leben zu erwecken. Den endgültigen Durchbruch schaffte ein sensationelles Ereignis: Im August 1924 lag eine 30-jährige Frau mit ihrer kleinen Tochter in Kaisersteinbruch, einem kleinen Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze in der Totenkammer neben der Kirche. Beide waren bei einem Gewitter vor einer Stunde vom Blitz »getötet« worden. Da kam ein Wiener
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