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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels
Autoren: J Wolfe
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zu erdrücken drohen. Wir sprechen mit ihnen, und wir hören ihnen zu, wenn der Wind in ihren Zweigen rauscht und sie uns Geschichten erzählen.«
    »Ich glaube, ich verstehe Sie«, sagte Abbie zu Hannahs Überraschung nach einer Weile.
    Der Häuptling stand auf und ging zum Schrank, kramte in einer Kiste und reichte der Frau des Unternehmers ein Amulett aus dunklem Holz. »In diesem Amulett wohnt die Seele eines Baumes. Nehmen Sie es, Madam, und denken Sie an uns, wenn Sie nach San Francisco zurückkehren.« Er wandte sich an Hannah und legte ihr eine Hand auf die Schultern. »Ich habe dir unrecht getan, meine Tochter. Du bist stark genug, um die bösen Geister abzuwehren.«
    Von einem Häuptling als »Tochter« bezeichnet zu werden, war das höchste Lob, das eine Frau von einem Indianer bekommen konnte. Anscheinend glaubte er daran, dass Abbie ihren Mann überreden und dieser sich eine andere Gegend für den Holzabbau suchen würde. »Ich danke dir, Großvater!«, sagte sie, als sie sich verabschiedeten. »Wir sehen uns wieder.«
    Auf der Rückfahrt hielt Abbie das Amulett fest umklammert. Sie ließ ihren Blick über die Wälder an den Ufern wandern und seufzte leise, setzte mehrfach zu sprechen an und sagte schließlich: »Ich werde mit meinem Mann reden. Es gibt sicher noch andere Gegenden in Alaska mit wertvollen Bäumen. Manchmal habe ich sowieso den Verdacht, dass Mr Pearlman gemeinsame Sache mit irgendwelchen Spekulanten macht, wenn er die Abbaugebiete aussucht.« Sie lächelte bitter. »Sie können sich auf mich verlassen. Die Indianer werden in ihren Dörfern bleiben, dafür sorge ich.«
    Joseph Farnworth war bereits an Bord des Dampfschiffes, als sie die Anlegestelle erreichten. »Da bist du ja endlich«, rief er seiner Frau schon von Weitem zu. »Wir müssen los. Du weißt doch, wie früh es hier dunkel wird.« Er blickte seltsam berührt auf das Ruderboot. »Wo warst du denn so lange?«
    »Ich muss mit dir reden«, erwiderte Abbie, anstatt auf seine Frage einzugehen. »Mach dich schon mal auf einiges gefasst!« Sie umarmte Hannah und verabschiedete sich von ihr. »Auf Wiedersehen, meine Liebe. Bleiben Sie so, wie Sie sind. Mein Gott … Ich wollte, ich wäre noch mal so jung wie Sie.«
    Hannah half ihr an Bord und winkte ihr zu, glaubte inzwischen auch daran, dass sie ihren Mann überreden würde. Damit würden sie das Problem nicht für alle Zeit, aber wenigstens für eine Weile lösen. Sie selbst nahm sich vor, die Indianer auch im nächsten Winter zu unterrichten und vielleicht sogar eine offizielle Genehmigung der Regierung dafür zu erhalten. »Eine gute Ausbildung ist das Wichtigste im Leben«, hatte ihr strenger Vater einmal gesagt und sie deshalb auch in die Schule geschickt. Nur wer lesen und schreiben konnte, würde zurechtkommen in der Welt.
    Sie blickte dem Dampfboot nach, bis es hinter der nächsten Biegung verschwunden war. Das Tuckern des Motors wurde leiser und leiser und ging, gerade als ihr Captain entgegengelaufen kam und sie zum Haus zurückkehren wollte, in ein kaum wahrzunehmendes Dröhnen über, das langsam anschwoll, plötzlich laut und durchdringend wurde. Sie blickte aufgeregt nach oben und sah eine rote Jenny kommen. Vom Wind getragen glitt sie auf den Fluss herab und setzte in einer Gischtwolke mit ihren Schwimmern auf. Im Cockpit saß ein junger Mann in brauner Lederjacke, den weißen Schal verwegen über die Schultern geschwungen und ein strahlendes Lächeln im Gesicht, als er die Lederkappe und die Schutzbrille abnahm. »Frank!«, rief sie fröhlich. »Frank Calloway!«
    Frank kletterte aus dem Cockpit, vertäute die Maschine und schloss Hannah in die Arme. »Entschuldige die Verspätung, ich musste noch auf Post warten, sonst wäre ich schon vor einem Monat gekommen.«
    »Frank! Um Himmels willen, jetzt heule ich doch tatsächlich deinetwegen!«
    »Das ist ein gutes Zeichen, oder?«
    »Ich glaube schon. Ich hab noch zwei Flaschen Coke.«
    »Die brauchen wir auch. Es gibt was zu feiern.«
    »Unser Wiedersehen?«
    »Vielleicht auch mehr. Du hast Post!«
    »Ein Brief von Clara? Zeig her!«
    »Erst wenn wir im Haus sind.«
    Sie gingen ins Haus, und er legte zwei Umschläge auf den Tisch. Der eine Brief war tatsächlich von Clara. Auf dem zweiten klebte keine Briefmarke, und es stand nur »Hannah« darauf.
    »Den ohne Briefmarke zuerst«, sagte Frank. Er wirkte nervös.
    Hannah betrachtete den Umschlag lange. Mit zitternden Händen öffnete sie ihn. Beim Anblick des kostbaren
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