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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels
Autoren: J Wolfe
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meisten Männer schlechter Laune, und als Bedienung in einem ehemaligen »Beer Garden« musste man sich ständig solche Bemerkungen anhören.
    »Zwei Gläser Cranberry mit Zitrone«, wiederholte sie pflichtbewusst.
    Auf dem Rückweg zur Küche kam sie an dem großen Wandspiegel vorbei, der über dem Stammtisch angebracht war, eine Erinnerung an die alte Heimat, und sie vermied es wie jeden Abend, einen Blick hineinzuwerfen. Die Schicksalsschläge der letzten Jahre hatten sie viel Kraft gekostet. Sie war schmaler geworden, auch im Gesicht, und ihre Haut hatte einen ungesunden Ton angenommen. Nicht die edle Blässe, die noch vor einigen Jahren modern gewesen war, eher ein ungesundes Grau, wie man es bekam, wenn man sich zu lange in geschlossenen Räumen aufhielt. In der Nähfabrik gab es überhaupt keine Fenster, bloß das flackernde Gaslicht, und die beiden großen Fenster von Henry’s Café lagen unter einer dunklen Markise, man sah nie den Himmel, immer nur den Bürgersteig der 86 th Street. Wie sehr sehnte Hannah sich nach den weiten Ebenen, die es im fernen Westen und hohen Norden geben sollte, dem endlosen Land abseits der großen Städte, in dem die Natur noch so unverfälscht wie vor der Ankunft der ersten Siedler war.
    Ihre Eltern hatten für den gleichen Traum gelebt und immer gehofft, New York eines Tages verlassen und sich irgendwo in der Ferne eine Zukunft aufbauen zu können, doch über Brooklyn waren sie nie hinausgekommen. Das wenige Geld, das sie gespart hatten, war in die Taschen von Wilhelm Behringer geflossen. Hannahs Vater hatte nach wenigen Jahren seine Arbeit am Fließband verloren und wegen seines chronischen Hustens keine neue Anstellung gefunden, man konnte förmlich zusehen, wie er von Tag zu Tag mutloser und verzweifelter wurde, eines Tages war er betrunken vor ein Automobil gelaufen und noch am Unfallort gestorben. Ihre Mutter hatte tapfer versucht, allein für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, doch selbst als Hannah ebenfalls in der Nähfabrik anfing, waren sie mit den Schulden und der Miete nicht nachgekommen. Wilhelm Behringer, ein Unternehmer aus der alten Heimat, verlangte hohe Zinsen und lachte nur, wenn man ihn um eine Senkung der Kosten bat. Allein der Betrag, den er für die Überfahrt und die »Beratung bei der Einreise« verlangt hatte, war eine Unverschämtheit gewesen. Zumal jene »Beratung« aus der Zuweisung einer Wohnung in einem baufälligen Gebäude bestanden hatte, für die er eine ebenso unverschämt hohe Miete verlangte. Hannahs Mutter war vor fünf Wochen gestorben, an Herzschwäche, wie der Arzt diagnostiziert hatte. Aus Kummer und Sorge um die Zukunft, wie Hannah annahm. Sie vermisste ihre Mutter sehr.
    Henry Smith empfing sie vor der Pendeltür und zog sie in den Gang hinein. »Was ist heute bloß mit dir los?«, fauchte er sie leise an. »Hast du denn nicht gesehen, wer gerade zur Tür hereingekommen ist? Ron Lieberman, der Brauereibesitzer. Sobald die Regierung das Alkoholverbot aufhebt, ist er der große Mann in Brooklyn und Manhattan. So einer wie der geht nicht unter. Der verdient Tausende von Dollar mit seinem schwarzgebrauten Bier und kann sofort wieder loslegen. Einer wie der diktiert uns die Preise. Wenn er nicht mehr will, gehen wir unter. Also gib ihm Tisch eins, und sei ein bisschen nett zu ihm. Lächle ihn an, und streife ihn mit dem Schenkel, so was mag er.«
    »Ich soll was ?«, wehrte sie sich viel zu laut, und er legte ihr seine nach Rippchen riechende schwielige Hand auf den Mund. »Ich bin doch keine …«
    »Jetzt geh endlich, aber zackig!«, fiel ihr der Wirt ins Wort und schob sie in Richtung Gang.
    Hannah ging in den Gastraum zurück und empfing den dicken Brauereibesitzer mit einem gequälten Lächeln. »Guten Abend, Mr Lieberman«, begrüßte sie ihn so höflich wie möglich. »Wäre Ihnen der Tisch am Fenster recht?«
    »Natürlich, Schätzchen«, erwiderte Lieberman – ein aufgedunsener alter Kerl mit Stiernacken und Wurstfingern. »Und bring mir ein Ginger Ale on the rocks, mit viel Eis und Zitrone, damit das furchtbare Zeug wenigstens so aussieht wie ein Whiskey.« Er reichte ihr seinen Mantel und seinen Zylinder und setzte sich an den Fenstertisch, den Henry Smith an jedem Abend für besonders wichtige Gäste freihielt, »falls sich mal der Bürgermeister in unser Restaurant verirrt«, wie er nur halb im Scherz behauptete.
    Hannah brachte den Mantel zur Garderobe und kehrte in die Küche zurück. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen.
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