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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes
Autoren: Gina Mayer
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fragte meine Mutter scharf.
    »Ich bin ja schon unterwegs!«
    Und das war ich dann auch.
     
    Der erste Brief aus Afrika war ein paar Wochen zuvor angekommen. Meine Mutter hatte ihn ebenfalls wortlos entgegengenommen, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Wer schreibt dir denn da?«, hatte ich sie damals gefragt.
    »Ein Bekannter.«
    »Aus Afrika? Wen kennst du denn in Afrika? Und was will er von dir?«
    »Nichts von Belang.«
    Nichts von Belang. Als ob einer einen Brief durch die halbe Welt schicken würde, wenn er nichts wirklich Wichtiges mitzuteilen hätte.
    »Nun erzähl schon! Bitte!«
    »Hast du nichts zu tun?«
    Das war die Frage, die fast alle unsere Gespräche beendete.
     
    Bevor ich ihr den Brief übergeben hatte, hatte ich ihn mir natürlich ganz genau angesehen. Das Papier war recht grob, aber blütenweiß. Der Absender stand in einer kleinen, präzisen Handschrift auf der Rückseite.
     
    Immanuel Freudenreich
    Missionsstation Bethanien
    Groß-Namaland
    Deutsches Schutzgebiet Südwestafrika
     
    Allein diese Worte:
    Freudenreich
    Groß-Namaland
    Afrika
    Das klang so fantastisch, so märchenhaft.
    Was dieser Freudenreich nur von meiner Mutter wollte? Bettelbriefe von Missionaren aus aller Welt waren ja nun keine Seltenheit bei uns. Die Missionsschüler kannten Elberfeld und die Kohlstraßer kannten sie besonders gut. Denn in der Kohlstraße lag die Kohlstraßenkapelle, in der die Missionszöglinge Sonntagsschule hielten und die älteren Jugendlichen im Missionsgesangverein oder im Jungfrauenverein sammelten.
    Die meisten von ihnen hielten den Kontakt zur Gemeinde aufrecht, wenn sie später als Missionare in aller Herren Länder ihren Dienst taten. Denn auf uns Kohlstraßer war Verlass, wenn es darum ging, nach einem Erdbeben, einer Missernte oder einer Flut Geld für die armen Heidenkinder und ihre Familien zu sammeln. Ob die kleinen Negermädchen 1 Schürzen brauchten oder für die Eskimojungen Mützen und Fäustlinge gestrickt werden mussten, die Kohlstraßer halfen mit Feuereifer.
     
    Die Erläuterungen zu den Fußnoten 1 bis 13 befinden sich am Ende des Textes (siehe Erläuterungen).
     
    Aber meine Mutter hatte noch nie einen solchen Bittbrief erhalten. Alle wussten schließlich, dass unser Geld kaum für uns selbst ausreichte. »Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel«, sagte Hedwig vom Lieberhäuschen mit einer gewissen Verachtung in der Stimme, wenn wir wieder einmal die Kartoffeln nicht bezahlen konnten und anschreiben lassen mussten.
    Geld konnte es also nicht sein, was dieser Missionar von uns wollte. Aber was dann?
    Sosehr ich auch darüber nachgrübelte, ich fand einfach keine Erklärung dafür.
     
    Wenn ich heute an die Kohlstraße zurückdenke, erscheint mir alles grün. Ich sehe die großen Gärten, in denen Salat, Kohl, Spinat und Möhren in schnurgeraden Reihen wachsen. Beerensträucher, Holunderbüsche, Brombeergestrüpp, Obstbäume am Straßenrand. Wiesen und Felder, die sich daran anschließen, dahinter der Wald. Grün sind die Fensterläden der Fachwerkhäuser und der Kohlstraßenkapelle, die nicht wie eine Kirche, sondern wie eine Bauernkate aussieht. Das Backes 2 hinter unserem Haus ist von glänzend grünem Efeu überwuchert.
    Nur die Kohlstraße selbst ist ein graues Band, das sich durch das unbändige Grün schlängelt. Zwischen den einzelnen Pflastersteinen drängen jedoch Grashalme und Unkraut ans Tageslicht, als wollten sie Besitz von der Straße ergreifen.
    Aber meine Geschichte beginnt ja im Herbst. Die Bäume hatten bereits ihre Blätter verloren, die kahlen Äste und Zweige sahen aus, als habe sie ein kleines Kind mit einem Stück Kohle an den Himmel gekritzelt. Mein Mantel war zu klein, sosehr ich die Ärmel auch nach unten zerrte, so weit ich den Kragen nach oben schlug, der frostige Wind zog doch überall herein.
    »Verdammtes Mistwetter«, hörte ich Rudolf schimpfen, als ich auf dem Kratzkopp ankam. Auf dem Kratzkopp , so hieß der Hof der Künstners. Er gehörte zur Kohlstraße, obwohl er an einem Feldweg abseits der Straße lag, eine gute Viertelstunde von uns entfernt. Rudolf war einer der Knechte, der an diesem Nachmittag vor dem Stall saß und rostige Nägel gerade schlug. Rudolf war mir nicht geheuer, weil er immer hässlich fluchte, sobald kein Erwachsener in der Nähe war. Außerdem sah er einen so komisch an, wenn man an ihm vorbeiging.
    Ich beschleunigte meine Schritte und hörte ihn hinter mir lachen – »Hehehe!«  – wie ein alter Ziegenbock.
    »Was
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