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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes
Autoren: Gina Mayer
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schnellsten Lehrgang ausgesucht, drei Jahre, danach könnte ich an einer Elementarschule unterrichten, obwohl ich viel lieber vier oder fünf Jahre studiert hätte, um die Lehrerlaubnis für eine höhere Töchterschule zu erlangen.
    Aber das war undenkbar. Viel zu teuer. Vierzig Reichsmark betrug das Schulgeld am Seminar im Jahr, das konnte meine Mutter unmöglich aufbringen. Das wollte sie vor allem auch gar nicht aufbringen. Im Gegensatz zu meinem Vater, dem es stets ein Herzensanliegen gewesen war, dass ich Lehrer werden sollte wie er selbst, gefiel meiner Mutter diese Vorstellung ganz und gar nicht. »Im Grunde ist es doch hinausgeworfenes Geld«, meinte sie immer. »Kaum bist du fertig mit dem Seminar, wirst du heiraten und Kinder kriegen und was nützt das Ganze dann?«
    Zum Glück hatte mein Vater den Betrag für die Grundausbildung bereits angespart, bevor er vor zwei Jahren an einem Krebsgeschwür gestorben war.
    »Bitte, Mutter«, flehte ich jetzt. »Ich will dir auch noch mehr helfen als bisher. Ich tu alles, was ich kann, wenn ich nur nicht auf den Kratzkopp muss.«
    Meine Mutter sah mich nur an, und obwohl sie immer noch keine Miene verzog, begann die Botschaft langsam, ganz langsam in mich einzudringen und verschaffte sich Raum in mir. Bis ich begriff. Es ging nicht nur um die Zeit bis zum nächsten Sommer. Es ging um viel mehr.
    »Wir haben das Schulgeld für das Seminar doch bereits angespart«, flüsterte ich.
    Meine Mutter biss sich auf die Unterlippe.
    »Vater hat es für mich angespart«, wisperte ich. »Oder?«
    »Es ging nicht anders, Jette«, gab meine Mutter ebenso leise zurück, dabei gab es gar keinen Grund zu flüstern, wir waren doch allein. »Wenn ich das Geld nicht genommen hätte, wären wir verhungert. Dein Vater hat uns eine Menge Schulden hinterlassen und …«
    Ich wollte das nicht hören. Mein Vater hatte Geld für mich zurückgelegt, bevor er gestorben war. Für mich allein, nur für mich, aber meine Mutter hatte das Geld genommen. Sie hatte es mir gestohlen.
    »Du hattest kein Recht dazu!«, schrie ich und sprang auf. Mein Stuhl kippte nach hinten und knallte zu Boden. Meine Mutter schlug die Hände vors Gesicht. Ich rannte aus der Küche.
    Damals wusste ich noch nicht, was in dem zweiten Brief stand.
     
    Ich legte mich in mein Bett und zog die Decke über den Kopf. Als Mutter kurz darauf hereinkam, tat ich, als ob ich schliefe, weil ich nicht mit ihr reden wollte. Ich war so wütend. Sie legte sich in ihr Bett, das nur ein paar Meter von meinem entfernt war. An ihrem Atem konnte ich hören, dass sie ebenfalls keinen Schlaf fand.
    Als mein Vater noch lebte, hatten wir zu dritt am unteren Ende der Kohlstraße im Schulhaus gewohnt, aber nach seinem Tod kam ein neuer Lehrer und wir mussten ausziehen. Damals hatte meine Mutter das kleine Häuschen in der Nähe der Kapelle angemietet, in dem wir heute wohnten. Im unteren Stockwerk lagen die Küche, unsere gemeinsame Schlafkammer und die Nähstube meiner Mutter, die obere Etage hatten wir an einen Junggesellen aus Remscheid untervermietet, der im Bayer-Werk arbeitete.
    »Denk doch einmal nach«, sagte meine Mutter nach einiger Zeit in die Dunkelheit hinein. »Du hättest es gut auf dem Kratzkopp. Besser als die anderen Mädchen. Du bekommst deine eigene Kammer im Haus, der Sonntag ist frei und dazu noch ein weiterer Nachmittag in der Woche. Pastor Krupka meint, dass es ein durchaus großzügiges Angebot ist.«
    So war das also. Noch bevor meine Mutter mir auch nur ein Sterbenswörtchen von ihren Plänen erzählt hatte, hatte sie schon mit Pastor Krupka gesprochen. Und er billigte das Angebot. Damit war die Sache ja wohl entschieden.
    Denn in der Kohlstraße herrschte nicht wie im Rest des Deutschen Reiches der deutsche Kaiser, sondern der Pastor. Er entschied, was gemacht wurde und was man besser unterließ. Schließlich kannte er sich ja auch am besten in der Bibel aus und wusste somit immer ganz genau, wie Gottes Wille in einer bestimmten Angelegenheit aussah.
    Ich drehte mich vom Rücken auf die Seite, das Gesicht zur Wand.
    Vor meinen geschlossenen Lidern tauchte Frau Künstner auf. »In der Not schmeckt jedes Brot«, krächzte sie mit ihrer brüchigen Altweiberstimme.
    Ich faltete meine Hände unter der Bettdecke. Lieber Gott, betete ich stumm. Hilf mir bitte, dass ich nicht auf den Kratzkopp muss. Lass mich aufs Lehrerinnenseminar gehen, ich will alles dafür geben, eine gute Lehrerin zu werden.
    Danach lauschte ich in die
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