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Im Jenseits ist die Hölle los

Titel: Im Jenseits ist die Hölle los
Autoren: Arto Paasilinna
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stammen. Die meisten trugen die Mode aus den Fünfzigerjahren, aber auch Kleidung aus der Vorkriegszeit war vertreten, bis hin zur Jahrhundert­ wende. Hinten im Saal sah ich zu meinem Erstaunen sogar zwei zerlumpte Militärangehörige, beide eindeutig Frontkämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg. Der eine war Unteroffizier, der andere einfacher Soldat. Sie sahen aus, als wären sie direkt aus der Schlacht in den Lese­ saal gekommen.
    Diese gemischte Gesellschaft stand stumm da und studierte aufmerksam, gemeinsam mit denen, die die Zeitungen in den Händen hielten, die Tagespresse.
    Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Vielleicht waren all die, die dort standen, Tote so wie ich? Womög­ lich gab es im Jenseits außer mir auch noch andere Wesen?
    Natürlich! Wieso war ich nur nicht früher auf diese Idee gekommen? Selbstverständlich gierten auch andere Tote nach frischen Nachrichten, und wo sonst, wenn nicht in der Bibliothek, konnte man problemlos die Tagespresse verfolgen. Ich begriff augenblicklich, dass sich die Rolle der Bibliotheken als Wissensvermittler nicht nur auf den Dienst an den Lebenden beschränkte, sondern dass auch Heerscharen von Toten täglich die Lesesäle nutzten. Angesichts dessen wäre es nur recht und billig gewesen, die finanziellen Mittel für die Biblio­ theken spürbar zu erhöhen, denn die Lesefreudigkeit der Toten war keineswegs gering zu schätzen. Wüssten die politischen Entscheidungsträger, wie viele tatsächli­ che Nutzer die Bibliotheken vorweisen konnten, würden sie den zuständigen Fachbereichen bestimmt weit höhe­ re Summen bewilligen.
    Ich spürte, wie ich errötete. War ich doch ganz lässig in den Lesesaal gekommen, in dem naiven Glauben, ich sei allein, und jetzt stellte ich fest, dass wir Wesen aus der Geisterwelt zahlenmäßig alle anderen weit übertra­ fen. Ich versuchte mich auf das Studium der Zeitung zu konzentrieren, doch schielte ich dabei immer wieder heimlich nach den Toten, die um mich herum standen, mich aber nicht weiter zu beachten schienen.
    Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. War es angebracht, all die fremden Geister zu begrüßen, oder war es besser, wenn ich mich abseits hielt und so tat, als gehörte der Besuch im Lesesaal zu meiner Alltags­ routine? Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut: Es war unangenehm, in eine Gesellschaft zu geraten, deren Regeln man nicht kannte.
    Einer meiner Mitleser – er stand unweit von mir hin­ ter einem der Lebenden – war ein dicker älterer Mann mit rotem, gedunsenem Gesicht. Er hatte eine gedrun­ gene Statur und sah ziemlich unappetitlich aus. Seine Kleidung war schmutzig, sein ungekämmtes Haar stand wirr nach allen Seiten, und seine letzte Rasur lag schon mehrere Tage zurück. Der Mann musterte mich prüfend und sagte dann leise:
    »Sie sind ein Neuer, oder?«
    Von diesem heruntergekommenen Kerl angesprochen zu werden erschreckte mich so, dass ich schnell den Kopf schüttelte. Der Mann ließ sich jedoch nicht beirren und fuhr fort:
    »Nur keine Scheu. Ich habe Ihr Foto heute in der Mor­ genzeitung gesehen. Sind Sie nicht der Mann, der vor­ gestern in der Kaisaniemenkatu von einem Auto über­ fahren wurde?«
    Nun war ich gezwungen zuzugeben, dass er Recht hatte. Unser Gespräch sorgte unter den anderen Toten für Unmut, wahrscheinlich störte es ihre Konzentration. Einige runzelten die Brauen und sahen uns tadelnd an. Im Lesesaal musste auch ein Toter still sein, das wusste ich jetzt.
    Der grobschlächtige Kerl forderte mich flüsternd auf, mit ihm hinauszugehen, damit wir uns ein wenig unter­ halten könnten. Gleich darauf trat er durchs Fenster auf die Straße und winkte mir, ihm zu folgen.
    Wieder lernte ich etwas Neues: Wir Geister waren in der Lage, durch Fensterscheiben zu gehen, ohne dass sie zersprangen. Das Durchdringen des Glases nahm mir vorübergehend den Atem, andere Nebenwirkungen gab es allerdings keine. Mir brannten nicht einmal die Augen, obwohl das Glas stark funkelte…
    Draußen gingen wir die Süd-Esplanade entlang. Mein neuer Bekannter erklärte mir die Verhältnisse im Jen­ seits. Er berichtete, dass auf der Straße Lebende neben Toten gingen, bunt durcheinander. Ich sollte mir die Leute nur genau ansehen, dann würde ich lernen, die »Unsrigen« unter den Lebenden zu entdecken. Er zeigte auf die entgegenkommenden Passanten und sagte:
    »Lebender, Lebender, Toter, Lebender, Toter, Toter, Lebender…. da sehen Sie, wie leicht ich die Lebenden von den
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