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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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höchstwahrscheinlich von Blut herrührte, konnte sie den zusammengerollten, spaghettigleichen Faden darauf erkennen und wusste, was darüber gedruckt war: DAS GRÖSSTE SCHNURKNÄUEL DER WELT, CAWKER CITY, KANSAS. Hatte sie nicht genau so ein T-Shirt ordentlich zusammengelegt in ihrem Reisekoffer?
    Tobins Vater. Wie er leibte und lebte.
    »Hauen Sie ab!« Sie sprang auf und schlang die Arme um ihren Bauch. » RÜHREN SIE MICH NICHT AN! «
    Der Vater grinste. Die Wangen waren stopplig, die Lippen rot. »Ganz ruhig. Wollen Sie meine Frau kennenlernen? Oder he! Wollen Sie hier raus? Das ist ganz einfach.«
    Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Cal rief unentwegt etwas, aber für den Augenblick schenkte sie dem keine Beachtung.
    »Wenn Sie hier rauskönnten, wären Sie nicht mehr hier«, sagte sie.
    Er kicherte. »Richtiger Gedanke. Falsche Schlussfolgerung. Ich wollte mich gerade um meinen Jungen kümmern. Meine Frau habe ich bereits gefunden. Soll ich sie Ihnen vorstellen?«
    Becky schwieg.
    »Okay«, sagte er, wandte sich von ihr ab und machte einen ersten Schritt ins Gras hinein. Bald würde er fort sein, genau wie ihr Bruder. Becky spürte die Panik in sich aufsteigen. Er war ganz offensichtlich verrückt – man musste ihm nur in die Augen schauen und seiner tonlosen Stimme lauschen, um das zu begreifen –, aber er war ein Mensch .
    Er blieb stehen, drehte sich um und grinste. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Versäumnis. Gestatten Sie: Ross Humbolt, Immobilienmakler von Beruf. Aus Poughkeepsie. Meine Frau heißt Natalie. Und der Kleine heißt Tobin. Ein lieber Junge. Und so klug! Sie heißen Becky. Ihr Bruder heißt Cal. Letzte Chance, Becky. Kommen Sie mit, oder Sie werden sterben.« Sein Blick glitt zu ihrem Bauch hinab. »Und das Kind auch.«
    Vertrau ihm nicht.
    Das tat sie auch nicht, aber sie folgte ihm trotzdem. In sicherem Abstand, wie sie hoffte. »Sie haben nicht die geringste Ahnung, wohin Sie gehen.«
    »Becky? Becky!« Cal. Allerdings weit weg. Irgendwo in North Dakota. In Manitoba vielleicht. Wahrscheinlich sollte sie ihm antworten, aber ihr Hals war inzwischen zu wund dazu.
    »Ich hatte mich genauso im Gras verirrt wie Sie beide«, sagte er. »Aber damit ist es vorbei. Ich hab den Stein geküsst.« Er wandte sich kurz um und sah sie mit schelmischem, irrem Blick an. »Hab ihn sogar umarmt. Wusch. Da hab ich sie gesehen. All die kleinen tanzenden Männchen. Alles hab ich gesehen. Ganz klar und eindeutig. Zurück zur Straße? Schnurgeradeaus! Immer ein Ziel vor Augen! Meine Frau ist gleich da drüben. Sie müssen sie unbedingt kennenlernen. Sie ist ein richtiger Schatz. Macht den besten Martini in Amerika. Einem Mädchen mit Namen Sabrini, lief Gin in ihren Bikini. Sie goss Wermut dazu, und rief: ›Jetzt du!‹ Den Rest kennen Sie wahrscheinlich.« Er zwinkerte ihr zu.
    Auf der Highschool hatte Becky an einem Selbstverteidigungskurs für junge Frauen teilgenommen. Sie versuchte, sich an die Bewegungsabläufe zu erinnern, was ihr aber nicht gelang. Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte …
    Tief in ihrer rechten Hosentasche steckte ein Schlüsselbund. Der längste und dickste Schlüssel daran passte in die Eingangstür des Hauses, in dem sie und ihr Bruder aufgewachsen waren. Sie löste ihn von den anderen und schob ihn sich zwischen Zeige- und Mittelfinger.
    »Da wären wir auch schon!«, verkündete Ross Humbolt fröhlich und teilte das hohe Gras mit beiden Händen wie ein Forscher in einem alten Kinofilm. »Sag hallo, Natalie! Diese junge Frau hier wird bald einen Welpen bekommen!«
    Jenseits der Büschel, die er aufhielt, war das Gras blutbespritzt. Becky wäre am liebsten stehen geblieben, aber ihre Beine trugen sie vorwärts, und er trat sogar beiseite, wie in einem dieser alten Kinofilme, in denen ein charmanter Kerl Nach dir, Puppe sagte und die beiden dann einen vornehmen Nachtclub betraten, in dem eine Jazz-Combo spielte, nur dass das hier kein vornehmer Nachtclub war, sondern eine kleine Lichtung, wo die Frau – Natalie Humbolt, wenn sie wirklich so hieß – ganz verdreht im Gras lag. Die Augen traten ihr aus den Höhlen, das Kleid war hochgeschoben, in den Oberschenkeln befanden sich große rote Löcher, und Becky glaubte nun zu wissen, warum Ross Humbolt aus Poughkeepsie so rote Lippen hatte. Einer von Natalies Armen war an der Schulter abgetrennt worden und lag drei Meter hinter ihr im niedergetrampelten Gras, das sich bereits wieder aufrichtete, und in ihren Armen
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