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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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schmutzige, nasse, mit Fliegen übersäte Fell des Hundes sah aus wie ein dreckiger goldfarbener Teppich, der über einen Haufen Knochen geworfen worden war. Aus dem Fell lösten sich kleine Flaumflocken und wurden davongeweht.
    Reiß dich zusammen. Es war sein Gedanke, aber die Stimme seines Vaters. Sich diese Stimme vorzustellen half ihm. Er starrte den eingesunkenen Bauch des Hundes an und sah, dass sich dort etwas bewegte. Es wimmelte nur so von Maden. Wie auf den angebissenen Hamburgern, die auf dem Beifahrersitz des verdammten Prius gelegen hatten. Burger, die schon seit Tagen dort lagen. Jemand hatte sie dort zurückgelassen, hatte seinen Wagen dort stehen lassen und war nicht wiedergekommen …
    Reiß dich zusammen, Cal. Wenigstens um deiner Schwester willen.
    »Mach ich«, versprach er seinem Vater. »Mach ich.«
    Er streifte die widerspenstigen Grasschlingen von Fußgelenk und Schienbein ab. Die Schnitte, die ihm das Gras zugefügt hatte, spürte er kaum. Er stand auf.
    »Becky, wo bist du?«
    Er musste lange auf eine Antwort warten – so lange, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Dann, von unglaublich weit weg: »Hier! Cal, was sollen wir tun? Wir haben uns verirrt!«
    Wieder schloss er kurz die Augen. Genau das hat der Junge gesagt. Dann dachte er: Le kid, c’est moi. Irgendwie fand er das komisch.
    »Wir rufen und hören nicht damit auf«, sagte er und bewegte sich in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war. »Wir rufen so lange, bis wir uns gefunden haben.«
    »Aber ich habe einen solchen Durst!« Sie klang jetzt näher, aber darauf konnte Cal nichts geben. Nein, nein, nein.
    »Ich auch«, sagte er. »Wir kommen hier wieder raus, Becky. Wir müssen nur einen klaren Kopf bewahren.« Dass er seinen schon verloren hatte, wenn auch nur ein wenig, würde er ihr nie verraten. Sie hatte ihm auch nie den Namen des Kerls verraten, der ihr das Kind untergejubelt hatte, also waren sie quitt. Sie hatte ein Geheimnis, er hatte eins.
    »Was ist mit dem Jungen?«
    Verdammter Mist, jetzt wurde sie wieder leiser. Er hatte eine solche Angst, dass ihm die Wahrheit einfach so herausrutschte, und das in voller Lautstärke.
    »Scheiß auf den Jungen, Becky! Wir müssen erst mal unsere eigene Haut retten!«

    Im hohen Gras war die eine Richtung wie die andere, und auch die Zeit schmolz dahin: eine Dalí-Welt mit Dolby-Sound. Sie jagten der Stimme des anderen nach wie erschöpfte Kinder, die einfach immer weiter Fangen spielen, anstatt zum Abendessen nach Hause zu gehen. Manchmal klang Betty ganz nah; manchmal klang sie weit weg; zu Gesicht bekam er sie kein einziges Mal. Ab und an rief der Junge um Hilfe, und einmal glaubte Cal, er wäre dicht vor ihm, sodass er mit ausgestreckten Armen ins Gras sprang, aber da war kein Junge. Nur eine Krähe, der der Kopf und ein Flügel abgerissen worden waren.
    Hier gibt es keinen Morgen und keine Nacht, dachte Cal. Nur einen ewigen Nachmittag. Doch kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, bemerkte er, dass er den matschigen Boden nicht mehr so gut erkennen konnte, weil das Blau des Himmels dunkler wurde.
    Wenn es hier Schatten gäbe, müsste er jetzt immer länger werden, dachte er. Wir könnten uns nach ihm orientieren und beide in dieselbe Richtung gehen. Aber es gab keine Schatten. Nicht im hohen Gras. Er schaute auf seine Armbanduhr und war nicht weiter überrascht, dass sie stehen geblieben war, obwohl es eine Automatik war. Das Gras hatte sie angehalten, da war er sich sicher. Irgendwelche bösartigen Schwingungen im Gras; irgend so ein paranormaler Fringe -Kram.
    Es war drei Viertel nichts, als Becky zu schluchzen anfing.
    »Beck? Beck? «
    »Ich muss mich ausruhen, Cal. Ich muss mich hinsetzen. Ich hab so einen schrecklichen Durst! Und ich krieg immer wieder Krämpfe.«
    »Wehen?«
    »Ich glaub schon. O Gott, was ist, wenn ich hier in dieser verdammten Wiese eine Fehlgeburt habe?«
    »Bleib einfach da sitzen, wo du bist. Das legt sich wieder.«
    »Danke, Herr Doktor. Ich …« Nichts. Dann schrie sie auf einmal. »Hauen Sie ab! RÜHREN SIE MICH NICHT AN! «
    Cal, der viel zu müde zum Rennen war, rannte trotzdem.

    So schockiert und entsetzt sie auch sein mochte, Becky wusste sofort, wer der Verrückte war, der da plötzlich aus dem Gras vor ihr auftauchte. Er trug Touristenklamotten – Dockers und schlammbespritzte Bass-Mokassins. Was ihn jedoch eigentlich verriet, war das T-Shirt. Obwohl es mit Schlamm verschmiert war und eine dunkelrote Kruste hatte, die
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