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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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sie vor, einen Abstecher nach Roswell zu unternehmen, wo sie sich diesen ganzen außerirdischen Kram anschauen wollten. Mittlerweile befanden sie sich ein ganzes Stück südlich vom Knäuel – das sich als ziemlich struppig, aber auch als wohlriechend entpuppt hatte und daher insgesamt deutlich beeindruckender gewesen war als erwartet. Die Route 73 war hier gut in Schuss und würde sie über das ganze serviertellerflache Kansas bis an die Grenze von Colorado führen. Vor ihnen war auf der asphaltierten, zweispurigen Straße kein einziger Wagen zu sehen, hinter ihnen ebenso wenig.
    Auf der rechten Seite standen ein paar Häuser, eine mit Brettern vernagelte Kirche, die Der schwarze Fels des Erlösers hieß (ein recht merkwürdiger Name für eine Kirche, wie Becky fand, aber schließlich war man hier in Kansas), und ein riesiges Bowlingcenter, das so verfallen aussah, als wäre es nicht mehr in Betrieb, seit die Trammps popmusikalische Brandstiftung begangen und ein Discoinferno entfacht hatten. Auf der anderen Seite der 73 war nichts außer hohem, grünem Gras zu sehen. Die Grasfläche erstreckte sich bis zum Horizont, der hierzulande unendlich weit erschien.
    »War das ein …«, setzte Becky an. Sie trug eine leichte Jacke, deren Reißverschluss über dem allmählich runder werdenden Bauch weit offen stand; Becky war schon mitten im sechsten Monat.
    Cal hob die Hand, ohne sie anzuschauen. Sein Blick war ganz auf das Gras gerichtet. » Pst! Hör doch!«
    Aus einem der Häuser erklang leise Musik. Irgendwo kläffte ein Hund phlegmatisch – wuff, wuff, wuff – und verstummte dann wieder. Jemand hämmerte ein Brett fest. Und der Wind säuselte sanft, aber stetig. Becky wurde bewusst, dass sie den Wind sogar sehen konnte. Er strich auf der anderen Straßenseite über das Gras und schlug darin Wogen, die sich erst in der Ferne verloren.
    Cal war schon fast zu dem Schluss gekommen, dass sie sich verhört hatten – es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich gemeinsam etwas einbildeten –, da ertönte der Schrei wieder.
    »Hilfe! Bitte helft mir!« Und: »Ich hab mich verlaufen!«
    Dieses Mal wechselten sie einen Blick, in dem neben Bestürzung auch Einvernehmen lag. Das Gras war unglaublich hoch (dass es nicht mit rechten Dingen zuging, wenn eine solche Grasfläche so früh im Jahr bereits mehr als mannshoch war, sollte ihnen erst später einfallen). Irgendein kleines Kind – höchstwahrscheinlich aus einem der Häuser an der Straße – hatte offenbar die Gegend erkunden wollen. Es hatte die Orientierung verloren und war immer tiefer in die Wiese hineingelaufen. Der Junge klang, wie wenn er etwa acht Jahre alt war. Er war also viel zu klein, als dass er über das Gras hätte sehen können, selbst wenn er hochgesprungen wäre.
    »Wir sollten ihn da rausholen«, sagte Cal.
    »Fahr den Wagen auf den Parkplatz vor der Kirche. Hier steht er ungünstig.«
    Cal ließ seine Schwester am Straßenrand zurück und bog auf den Parkplatz der Erlöserkirche ein. Dort standen ein paar mit Staub bedeckte Autos, deren Windschutzscheiben im grellen Licht der Sonne gleißten. Dass mit einer Ausnahme alle Wagen schon seit Tagen – wenn nicht sogar Wochen – hier zu stehen schienen, war eine weitere Anomalie, die den Geschwistern nicht auffiel. Jedenfalls anfangs nicht.
    Während sich Cal um den Wagen kümmerte, überquerte Becky die Straße. Sie legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief: »Hallo! Hallo, Kleiner! Hörst du mich?«
    Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Ja! Helfen Sie mir! Ich komm hier seit TAGEN nicht raus!«
    Weil kleine Kinder bekanntlich kein Zeitgefühl hatten, vermutete Becky, dass der Junge wohl eher zwanzig Minuten meinte. Sie suchte nach der Stelle, wo der Junge die Wiese betreten hatte (wahrscheinlich während er sich ausgemalt hatte, in irgendeinem Videospielabenteuer oder einem dämlichen Dschungelfilm zu sein), konnte jedoch keine niedergetrampelte Spur im Gras entdecken. Das war aber eigentlich auch nicht nötig. Die Stimme war irgendwo von links gekommen und nicht von allzu weit her. Was nicht weiter überraschte, weil sie ihn sonst selbst bei ausgeschaltetem Radio und offenem Fenster nicht hätten hören können.
    Sie wollte gerade die Böschung hinuntersteigen, als eine zweite Stimme ertönte, die heisere Stimme einer verwirrten Frau. Sie klang wie jemand, der eben erst aufgewacht war und einen Schluck Wasser benötigte. Und zwar dringend.
    »Tun Sie das nicht!«, rief
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