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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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fünf Minuten später hatte Cal für eine kurze Weile einen völligen Aussetzer. Unmittelbar nachdem er ein kleines Experiment durchgeführt hatte. Er sprang in die Höhe und schaute zur Straße, dann zählte er bis dreißig und sprang noch einmal hoch.
    Wenn man es ganz genau nehmen wollte, dann war es schon einigermaßen verrückt, sich so ein Experiment überhaupt auszudenken. Andererseits fühlte sich die Wirklichkeit immer mehr so an wie der Boden unter ihm: fließend und heimtückisch. Es wollte ihm nicht einmal gelingen, auf die Stimme seiner Schwester zuzulaufen – wenn er nach links lief, dann kam sie von rechts, und wenn er nach rechts lief, dann kam sie von links. Manchmal auch von vorn oder von hinten. Und ganz egal, in welche Richtung er sich bewegte, er schien sich immer weiter von der Straße zu entfernen.
    Er sprang hoch und richtete den Blick auf den Kirchturm, der sich wie ein leuchtend weißer Speer vor dem hellblauen Hintergrund des fast wolkenlosen Himmels abzeichnete. Die Kirche war kacke, aber der Turm war göttlich. Dafür hat die Gemeinde bestimmt ordentlich was hingeblättert, dachte er bei sich. Allerdings konnte er von hier aus – etwa einen halben Kilometer entfernt, auch wenn das verrückt war, weil er bislang bestimmt weniger als dreißig Meter gelaufen war – weder die abblätternde Farbe noch gar die Bretter vor den Fenstern erkennen. Nicht einmal seinen Wagen konnte er erkennen, der irgendwo zwischen den anderen winzigen Autos stand. Den staubigen Prius dagegen schon, der stand nämlich in der ersten Reihe. Cal verdrängte den Gedanken daran, was er auf dem Beifahrersitz gesehen hatte … ein Detail wie aus einem schlechten Traum, mit dem er sich jetzt noch nicht auseinandersetzen wollte.
    Bei seinem ersten Sprung war er dem Kirchturm direkt zugewandt gewesen, und in einer normalen Welt hätte er in der Lage sein müssen, in einer geraden Linie darauf zuzulaufen, wenn er zwischendurch immer mal wieder hochsprang, um kleinere Kurskorrekturen vorzunehmen. Zwischen der Kirche und dem Bowlingcenter erhob sich ein rostiges Schild voller Einschusslöcher. Es war rautenförmig und hatte einen gelben Rand: VORSICHT – KINDER vielleicht. Aber sicher war er sich da nicht. Auch seine Brille hatte er im Wagen gelassen.
    Er landete wieder im quatschenden Matsch und zählte von vorn.
    »Cal?«, ertönte die Stimme seiner Schwester irgendwo hinter ihm.
    »Warte!«, rief er.
    »Cal?«, wiederholte sie, dieses Mal von irgendwo links. »Soll ich weiterreden?« Und als er nicht antwortete, stimmte sie irgendwo vor ihm einen halbherzigen Singsang an: »Ein Mädchen ging brav auf die Schule …«
    »Jetzt halt doch mal den Mund!«, rief er.
    Sein Hals fühlte sich trocken an, und wenn er schlucken wollte, musste er sich anstrengen. Obwohl es bald zwei Uhr nachmittags sein würde, stand die Sonne irgendwie direkt über ihnen. Er spürte sie auf der Kopfhaut und auf seinen empfindlichen Ohren, die bereits einen Sonnenbrand abbekamen. Wenn er doch nur etwas zu trinken hätte – einen kalten Schluck Quellwasser oder eine Cola aus dem Wagen –, würde er sich nicht so gereizt fühlen, nicht so angespannt.
    Im Gras gleißten die Tautropfen zahllosen Vergrößerungsgläsern gleich, die das Licht brachen und verstärkten.
    Zehn Sekunden.
    »Kleiner?«, rief Becky irgendwo rechts von ihm. (Nein. Stopp. Sie bewegt sich nicht. Hör auf rumzuspinnen.) Sie klang ebenfalls durstig. Heiser. »Bist du noch da?«
    »Ja! Haben Sie meine Mama gefunden?«
    »Noch nicht!«, schrie Cal und dachte dabei, dass sie schon eine ganze Weile nichts mehr von ihr gehört hatten. Allerdings hatte er jetzt auch andere Sorgen.
    Zwanzig Sekunden.
    »Kleiner?«, sagte Becky. Ihre Stimme kam jetzt wieder von hinter ihm. »Es wird schon alles wieder gut.«
    »Haben Sie meinen Dad gesehen?«
    Noch jemand, dachte Cal. Na toll! Vielleicht ist William Shatner ja auch hier. Und Mike Huckabee … Kim Kardashian … der Typ, der bei Sons of Anarchy den Opie spielt, und sämtliche Mitwirkenden von The Walking Dead.
    Er schloss die Augen, aber ihm wurde sofort schwindlig, als stünde er auf einer schwankenden Leiter. Wenn er doch nur nicht an The Walking Dead gedacht hätte! Er hätte sich mit William Shatner und Mike Huckabee zufriedengeben sollen. Er öffnete die Augen wieder und stellte fest, dass er auf den Absätzen vor und zurück wippte. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich zu beruhigen. Der Schweiß lief ihm nur so übers Gesicht
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