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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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ist besser. Der Gasmaskenmann ist eine Gnade.«
    »Hilfe«, schrie Ellen, nur dass es kein Schrei war, sondern lediglich ein Flüstern. »Hilfe!« Sie konnte ihre Stimme nicht wiederfinden.
    »Ich habe Josiah auf dem Friedhof der Möglichkeiten gesehen. Er sollte mich in meinem Wraith begleiten. Im Christmasland wäre er glücklich bis in alle Ewigkeit. Dort kann die Welt ihm nichts anhaben, weil das Christmasland nicht in dieser Welt liegt. Es befindet sich in meinem Kopf. Dort sind sie alle sicher. Ich habe davon geträumt, wissen Sie? Vom Christmasland. Ich habe davon geträumt, aber ich laufe und laufe und kann das Ende des Tunnels nicht erreichen. Ich höre die Kinder singen, aber ich kann nicht zu ihnen gelangen. Ich höre sie nach mir rufen, doch der Tunnel nimmt einfach kein Ende. Ich brauche den Wraith. Ich brauche meinen Wagen.«
    Seine Zunge glitt aus dem Mund – braun, glänzend und obszön – und befeuchtete die trockenen Lippen. Dann ließ er sie los.
    »Hilfe«, flüsterte sie. »Hilfe. Hilfe. Hilfe.« Sie musste es noch ein paarmal wiederholen, bis sie wirklich einen nennenswerten Laut von sich gab. Dann stürmte sie in ihren weichen, flachen Schuhen durch die Zimmertür hinaus auf den Korridor, wo sie grellrote Fußspuren hinter sich herzog, und schrie aus Leibeskräften.
    Zehn Minuten später hatten zwei Polizisten in voller Kampfmontur Manx an sein Bett gefesselt, nur für den Fall, dass er die Augen öffnen und versuchen sollte aufzustehen. Aber der Arzt, der wenig später eintraf, wies an, ihn wieder loszubinden.
    »Dieser Mann ist seit 2001 bettlägerig. Er muss viermal am Tag gedreht werden, damit er keine Druckstellen bekommt. Selbst wenn er bei Bewusstsein wäre, wäre er viel zu schwach zum Laufen. Nach sieben Jahren Muskelschwund könnte er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr alleine aufsetzen.«
    Ellen lauschte von ihrem Platz neben der Zimmertür aus – wenn Manx wieder die Augen aufschlagen sollte, wollte sie als Erste draußen sein –, aber als sie den Arzt reden hörte, ging sie steifbeinig zu ihm hinüber, schob den Ärmel an ihrem rechten Handgelenk zurück und zeigte ihm die Blutergüsse an der Stelle, wo Manx sie gepackt hatte.
    »Sieht das etwa aus, als könnte es von einem Kerl stammen, der zu schwach ist, sich aufzusetzen? Ich dachte, er würde mir den Arm aus dem Gelenk reißen.« Ihre Füße schmerzten beinahe genauso sehr wie die blauen Flecken an ihrem Handgelenk. Sie hatte die blutdurchtränkte Strumpfhose ausgezogen und die Füße mit heißem Wasser und antibakterieller Seife geschrubbt, bis die Haut ganz wund gewesen war. Jetzt trug sie Turnschuhe. Die anderen Schuhe hatte sie weggeworfen. Selbst wenn sie sie hätte retten können, würde sie es wahrscheinlich doch nicht über sich bringen, sie je wieder zu tragen.
    Der Arzt, ein junger Inder namens Patel, warf ihr einen betretenen Blick zu und beugte sich vor, um Manx mit einer Taschenlampe in die Augen zu leuchten. Die Pupillen des Patienten weiteten sich nicht. Patel bewegte die Taschenlampe hin und her, aber Manx’ Augen blieben starr auf einen Punkt neben Patels linkem Ohr gerichtet. Der Arzt klatschte einen Zentimeter von Manx’ Nase entfernt in die Hände. Manx blinzelte nicht. Patel schloss vorsichtig die Augen des Patienten und warf einen Blick auf das EKG.
    »Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht von den letzten Dutzend EKGs«, sagte Patel. »Der Patient erreicht einen Wert von neun Punkten auf der Glasgow-Koma-Skala und weist langsame Alphawellen-Aktivität auf, wie sie für ein Alphakoma typisch ist. Wahrscheinlich hat er nur im Schlaf geredet, Schwester. Selbst bei Kartoffeln wie ihm kommt das manchmal vor.«
    »Seine Augen waren offen «, sagte sie. »Er hat mich direkt angeschaut. Er kannte meinen Namen und den meines Sohnes.«
    Patel sagte: »Haben Sie sich in seiner Nähe vielleicht mal mit einer anderen Schwester unterhalten? Wer weiß, was der Mann unbewusst so aufgeschnappt hat. Vielleicht haben Sie jemand erzählt, Ihr Sohn hätte einen Buchstabierwettbewerb gewonnen. Manx hört das mit und murmelt es irgendwann im Schlaf.«
    Sie nickte, aber insgeheim dachte sie: Er kannte Josiahs zweiten Vornamen. Und den hatte sie mit Sicherheit niemand im Spital gegenüber erwähnt. Für Josiah John Thornton gibt es einen Platz im Christmasland, hatte Charlie Manx zu ihr gesagt. Und für Sie einen im Haus des Schlafes.
    »Ich bin nicht dazu gekommen, ihm seine Bluttransfusion zu geben«, sagte sie. »Er
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