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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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Ihm war nach Stille zumute, weshalb er das Autoradio ausschaltete, also könnte man behaupten, dass es seine Schuld war. Ihr war nach frischer Luft zumute, weshalb sie die Klimaanlage ausschaltete, also könnte man behaupten, dass es ihre Schuld war. Da sie das Kind aber wahrscheinlich überhaupt nicht gehört hätten, wenn nicht alle beide Geräte ausgeschaltet worden wären, musste man eigentlich sagen, dass es an beiden gelegen hat. Eigentlich absolut typisch für Cal und Becky, immerhin bildeten sie schon ihr ganzes Leben lang ein festes Gespann. Cal und Becky DeMuth, im Abstand von neunzehn Monaten geboren. Ihre Eltern bezeichneten sie als irische Zwillinge.
    »Becky nimmt den Telefonhörer ab, und Cal sagt hallo«, erzählte Mr. DeMuth mit schöner Regelmäßigkeit.
    »Cal möchte eine Party ausrichten, und Becky hat bereits die Gästeliste fertig«, erzählte Mrs. DeMuth mit schöner Regelmäßigkeit.
    Zwischen den beiden gab es nie ein böses Wort, selbst da nicht, als Becky – zu der Zeit war sie noch Erstsemester mit einem Zimmer im Wohnheim – in Cals Bude außerhalb des Campus aufkreuzte und verkündete, sie sei schwanger. Cal hatte die Sache positiv aufgenommen. Ihre Eltern? Na ja, die waren nicht so optimistisch gewesen.
    Cals kleine Wohnung befand sich in Durham, weil er sich für die University of New Hampshire entschieden hatte. Als Becky zwei Jahre später auf dasselbe College wechselte (zu der Zeit nicht schwanger, wenn auch keine Jungfrau mehr), entlockte das niemand mehr als ein Gähnen.
    »Jetzt kommt er wenigstens nicht mehr jedes einzelne Wochenende nach Hause, um sich mit ihr herumzutreiben«, sagte Mrs. DeMuth.
    »Vielleicht haben wir dann endlich unsere Ruhe«, sagte Mr. DeMuth. »Nach zwanzig Jahren kann einem dieses Klettenhafte schon ein bisschen auf den Geist gehen.«
    Natürlich machten sie nicht alles zusammen. Cal war todsicher nicht dafür verantwortlich, dass seine Schwester einen Braten in der Röhre hatte. Außerdem war es ganz allein Beckys Idee gewesen, Onkel Jim und Tante Anne zu fragen, ob sie eine Weile bei ihnen wohnen könne – wenigstens bis das Kind da sei. Und als Cal vorschlug, dass er ebenfalls das Frühjahrssemester freinehmen könne, um gemeinsam mit seiner Schwester quer durchs Land zu fahren, hatten ihre Eltern keine Einwände erhoben. Sie waren sogar damit einverstanden, dass Cal bis zur Geburt bei Becky in San Diego blieb. Vielleicht fand er ja irgendeinen Nebenjob und konnte so etwas zum Lebensunterhalt beisteuern.
    »Schwanger mit neunzehn«, sagte Mrs. DeMuth.
    »Du warst mit neunzehn doch auch schwanger«, sagte Mr. DeMuth.
    »Ja, aber ich war verheiratet «, entgegnete Mrs. DeMuth.
    »Und das mit einem verdammt netten Kerl«, sah sich Mr. DeMuth veranlasst hinzuzufügen.
    Mrs. DeMuth seufzte. »Becky wird den ersten Vornamen aussuchen und Cal den zweiten.«
    »Oder umgekehrt«, sagte Mr. DeMuth – und seufzte ebenfalls. (Manchmal verhielten sich auch Ehepaare wie irische Zwillinge.)
    Ein paar Tage bevor die Kinder in Richtung Westküste aufbrachen, ging Beckys Mutter mit ihr zum Mittagessen aus. »Willst du das Kind wirklich zur Adoption freigeben?«, fragte sie ihre Tochter. »Es geht mich ja nichts an, schließlich bin ich nur deine Mutter, aber deinen Vater interessiert das.«
    »Ich bin irgendwie noch unschlüssig«, sagte Becky. »Cal wird mir bei der Entscheidung helfen.«
    »Und was ist mit dem Kindesvater, mein Schatz?«
    Becky sah ihre Mutter überrascht an. »Ach, der hat nichts zu melden. Der hat sich als ziemlicher Idiot entpuppt.«
    Mrs. DeMuth seufzte.

    Und so fuhren sie jetzt an diesem warmen Frühlingstag im April in einem acht Jahre alten Mazda mit einem Kennzeichen aus New Hampshire durch Kansas. Die Kotflügel waren noch mit den Streusalzspritzern aus dem Neuenglandwinter verkrustet. Radio und Klimaanlage waren ausgeschaltet, die Fenster offen. Weshalb sie beide die Stimme hörten. Leise, aber deutlich.
    »Hilfe! Hilfe! So hilf mir doch jemand!«
    Bruder und Schwester wechselten bestürzt einen Blick. Cal, der gerade hinter dem Steuer saß, fuhr sofort rechts ran. Der Schotter prasselte gegen den Wagenboden.
    Bevor sie Portsmouth hinter sich gelassen hatten, waren sie übereingekommen, sich von Schnellstraßen fernzuhalten. Cal wollte den Kaskaskia Dragon in Vandalia, Illinois, sehen; Becky wollte sich in Cawker City, Kansas, vor dem größten Schnurknäuel der Welt verbeugen (beide Vorhaben waren inzwischen erledigt); und nun hatten
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