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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras
Autoren: S King
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fauchte Ross. »Und zwar sofort, du Schlampe.« Er zerrte an ihrem Bein.
    Sie drehte sich herum und warf sich auf ihn. Mit Natalie Humbolts Fingernagelschere in der Faust schlug sie ihm ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal. Erst dann fing er an zu schreien. Es war ein Schmerzensschrei, auch wenn daraus, bevor sie mit ihm fertig war, ein lautes, wieherndes Gelächter geworden war. Der Junge hat auch so gelacht, dachte sie. Dann dachte sie eine ganze Weile gar nichts mehr. Bis der Mond aufging.

    Cal saß im letzten Tageslicht im Gras und wischte sich einzelne Tränen von den Wangen.
    Richtig loszuflennen würde er sich nie gestatten. Er hatte sich einfach nur auf den Hintern fallen lassen, nachdem er weiß Gott wie lange vergeblich herumgeirrt war und nach Becky gerufen hatte. Sie antwortete ihm schon lange nicht mehr. Seine Augen kribbelten eine Weile und waren feucht, und das Atmen fiel ihm schwer.
    Die Abenddämmerung war prächtig. Der Himmel war tiefblau, fast schwarz, und im Westen, hinter der Kirche, war der Horizont vom infernalischen Glanz verglühender Kohle erleuchtet. Er sah ihn hin und wieder, wenn er die Kraft hatte hochzuspringen und sich dabei einredete, dass es etwas brachte, einen Blick in die Runde zu werfen.
    Seine Turnschuhe waren bleischwer und völlig durchweicht, und die Füße taten ihm weh. Die Innenseiten seiner Oberschenkel juckten. Er zog den rechten Schuh aus und drehte ihn um – ein schmutziges Rinnsal ergoss sich ins Gras. Er trug keine Socken, und sein bloßer Fuß war so gespenstisch weiß und verschrumpelt wie eine Wasserleiche.
    Er zog auch den anderen Turnschuh aus und wollte ihn fallen lassen, zögerte dann jedoch. Schließlich setzte er ihn an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken und ließ das sandige Wasser – das nach seinen stinkenden Füßen roch – über die Zunge laufen.
    Er hatte Becky und den Mann irgendwo weit entfernt im Gras gehört. Er hatte gehört, wie der Mann mit hämischer, trunkener Stimme auf seine Schwester eingeredet und ihr geradezu einen Vortrag gehalten hatte, auch wenn Cal das meiste nicht hatte verstehen können. Irgendwas von einem Fels. Irgendwas von einem Tänzer. Eine Zeile aus einem alten Folksong. Was hatte der Typ da gebrabbelt? Zwanzig Jahre geschnüffelt, und ab ins Gewühle. Nein – das ergab keinen Sinn. Aber irgendwas in der Art. Mit Folk kannte sich Cal nicht besonders gut aus; er war eher ein Rush-Fan. Sie hatten fast während der ganzen Fahrt auf den Permanent Waves gesurft.
    Auf einmal hörte er, wie sich die beiden im Gras hin und her warfen und miteinander kämpften; er hörte Beckys erstickte Schreie und die Schimpftiraden des Mannes. Schließlich laute Schreie … Schreie, die entsetzlich nach übermütigem Gelächter klangen. Und das kam nicht von Becky. Sondern von dem Mann.
    Zu dem Zeitpunkt war Cal bereits hysterisch durchs Gras gerannt und hatte nach Becky geschrien. Er hatte geschrien und war eine halbe Ewigkeit gerannt, bevor er endlich die Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte und sich dazu zwingen konnte, stehen zu bleiben und zu lauschen. Er hatte die Hände auf die Knie gestützt und sich keuchend vornübergebeugt. Sein Hals war so trocken, dass es wehtat. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Stille gerichtet.
    Das Gras schwieg.
    »Becky?«, hatte er mit heiserer Stimme gerufen. »Beck?«
    Keine Antwort, außer dem Wind, der durch die Halme strich.
    Er war noch ein Stück weiter gegangen. Hatte gerufen. Hatte sich auf den Boden gesetzt. Hatte versucht, nicht zu weinen.
    Und die Abenddämmerung war prächtig.
    Er kramte in seinen Taschen, zum hundertsten Mal, ohne Hoffnung, von einem schrecklichen Hirngespinst heimgesucht, dort einen trockenen, fusseligen Streifen Kaugummi zu entdecken. Er hatte in Pennsylvania ein Päckchen Juicy Fruit gekauft, aber er und Becky hatten sie untereinander aufgeteilt, bevor sie die Grenze von Ohio erreicht hatten. Juicy Fruit war reine Geldverschwendung. Der zitronige Zuckerflash war weg, kaum hatte man viermal darauf herumgekaut, und …
    … er ertastete ein Stück Pappe, ein Streichholzbriefchen, und zog es hervor. Cal rauchte nicht, aber in einem kleinen Spirituosenladen gegenüber dem Kaskaskia Dragon in Vandalia hatte es welche kostenlos gegeben. Auf der Vorderseite war der über zehn Meter große Edelstahldrache abgebildet. Becky und Cal hatten eine Handvoll Jetons gekauft und den Großteil des Spätnachmittags damit zugebracht, den riesigen Drachen damit zu füttern, der
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