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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger
Autoren: Nicole Rensmann
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hatte. Alt und verschlissen, mit Messingbeschlägen und Schnappschlössern. Nicht antik, aber mit einer abenteuerlichen Vergangenheit. Wenn er sprechen könnte, hätte sie ihn verhört – nicht nur, um den wahren Täter herauszufinden.
    »Mach du den Koffer auf«, sagte sie zu Peter und blieb hinter ihm stehen. Er sah sie einen Moment an, zögerte. Dann kniete sich ihr Chef auf den Boden und zog sich die Jacke aus, als stünde ihm eine außergewöhnliche Anstrengung bevor. Seine Pistole steckte im Halfter, auf der linken Seite. Er tastete danach. Eine Geste, die Mia nur zu bekannt erschien. Sie lächelte. Nur kurz.
    Der angebliche Bahnsteigmörder starrte aus dem Fenster, wiegte sich im Takt einer Melodie, die nur er hörte.
    Die Schlösser klappten lautstark auf. Mit einem Mal stand der Verdächtige auf, sein Gesicht von Wut gezeichnet, spuckte Schimpfwörter aus wie ein aktiver Vulkan Lava. Er ballte die Fäuste, sein Kopf zuckte unkontrolliert. Nur Sekunden. Gleichzeitig öffnete Peter den Deckel des Koffers. Der Koffer war voller roter Haarsträhnen. Der Bahnsteigmörder tötete nur rothaarige Frauen, aber Louises Haare hatten einen besonderen Ton gehabt, der ins goldorange ging. Mia erkannte es sofort.
    Sie zog die Waffe und schoss.
    Stillstand.
    Frisches Blut tränkte die Haare der toten Frauen, die der Täter als Andenken mit sich genommen hatte. Immer und immer wieder hatte er sie nach seinen Morden glatt gestrichen, gekämmt, vielleicht liebkost. Mia spürte das Abendessen in ihrem Magen rebellieren. Lasagne. Der vermeintliche Bahnsteigmörder fiel auf die Bank zurück, er presste die Hände gegen die Brust, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
    Mia achtete nicht auf ihn, sie fuhr mit den Fingerspitzen über Peters Waffe. Ein paar wenige Haare klebten am Griff, unbeachtet. Für sein Haar zu lang und auch nicht schwarz, sondern goldorange. Das Haar ihrer Schwester. Peter starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an: »Bist du verrückt geworden?«
    Seine Stimme klang verändert.
    »Er ist dein Bruder, oder? War er nicht krank? Hast du das nicht immer erzählt? Dein Bruder sei unzurechnungsfähig und ein dummer Tölpel, der alles für dich macht, wenn du ihm nur versprichst, ihn lieb zu haben? Der würde sogar für dich töten, hast du gesagt. Aber das musste er gar nicht!« Sie trat ihm in die Seite. »Du mieses Schwein. Du hast ihn nur benutzt. Ist er dir jetzt lästig geworden?«
    Obwohl mit dem Blut, das aus der Wunde floss, auch sein Leben aus seinem Körper wich, tastete er nach seiner Waffe. Doch Mia, das hätte er wissen müssen, war schneller und schoss ein zweites Mal auf Peter. »Nur für dich, weißt du«, presste er hervor. Die Stimme.
    Ihr Instinkt hatte sie so viele Jahre lang verlassen, zu sehr hatte sie ihm – trotz ihrer Überlegenheit – vertraut. Wie dumm sie doch gewesen war! Erst als Mia die wenigen Haarsträhnen ihrer Schwester auf seiner Waffe entdeckte hatte, die dort kleben geblieben sein mussten, nachdem er seiner Trophäe die nötige Pflege hatte zukommen lassen, hatte sie Peters wahres Gesicht erkannt.
     
    Sie trat zurück auf den Bahnsteig, den einstigen Zopf ihrer Schwester, den sie aus dem Wirrwarr roter Haare gezogen hatte, hielt sie fest umklammert, die Hand verdeckt in ihrer Manteltasche, dort wo der Knopf ruhte, der an ihrem Mantelkragen fehlte.
    Jetzt fror sie nicht mehr.

Die Norm
    (2001)
     
    Wie viele Jahre steckte sie nun schon hier drinnen? Wie viele Male war sie stets den gleichen Weg gegangen und hatte tiefe Furchen in den Boden gelaufen? So tief, dass sie über den Rand stolperte, falls sie daneben trat. Doch sie trat nie darüber.
    Dieser Weg war ihre Bestimmung. Sie fühlte sich unwohl zwischen den Wänden, die ihr Leben bedeuteten; eingesperrt in einer Kammer, von den Maßen einer Streichholzschachtel, und doch groß genug, um all das hineinzupressen, was zu ihr gehörte. Es war nicht viel, nur das, was befolgt werden musste. Sie durfte nicht nach rechts, nicht nach links, weder nach oben noch nach unten schauen. Immer nur geradeaus, alles grau in grau in grau. So wie alle. Allezeit.
    Doch sie wollte nicht mehr rennen, nicht mehr dem hinterher, dem alle nachliefen. Sie wollte ihren eigenen Weg gehen, wollte raus, wollte weg, weit weg und anders sein.
    Wie? Anders.
    Sie durfte nicht ausbrechen.
    So rannte sie hin und her und fühlte sich von Tag zu Tag verlassener.
    Wer war sie denn?
    Sie war es, die Regeln vorschrieb, die von Anderen befolgt und
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