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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger
Autoren: Nicole Rensmann
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Krammetsvögel und pickten die Beeren auf. Als Dankeschön hatten sie ihre Mahlzeit mit einem freudig klingenden
    Tschack-tschack-tschack untermalt.
     
    Jetzt klang ihr Gesang nicht freudig, sie waren aufgebracht und Josef hörte das Fluchen seiner Verfolger, die sich gegen den Kot wehrten, den die Krammetsvögel auf seine und somit ihre Feinde spritzten.
    »Bleib stehen! Wir kriegen dich sowieso«, schrie der eine, und der andere ergänzte: »Wenn nicht jetzt, dann später.«
    »Wir wollen doch nur in dein Felleisen gucken.« Die Männer lachten und Josef ahnte, dass die Wegelagerer ihn nicht davon kommen lassen würden. Er lief, als sei der Teufel hinter ihm her, sprang über Büsche, schlug Äste zur Seite, duckte sich unter tiefhängendes Geäst, rannte. Als sich ein Riemen seines Felleisens in einem dornigen Gestrüpp verfing, setzte sein Herz für einen Moment aus. Gleich würden sie ihn packen. Josef zerrte an seinem Rucksack, doch die Dornen drangen tief in das Leder ein und gaben ihn nicht frei. Zum ersten Mal sah Josef seinen Verfolgern ins Gesicht.
    Sie blieben stehen, als seien sie sicher, endlich ihr Ziel erreicht zu haben. Es mussten Fremde sein, denn er war ihnen noch nie zuvor begegnet. Vielleicht gingen sie zum Krammetsvogelessen – ein Fest, das er all die Jahre gemieden hatte. Viele Besucher aus den umliegenden Orten strömten dorthin.
    Die beiden Männer sahen wie Vagabunden aus, ihre Kleidung war schmutzig. Beide hatten braune Haare, das des Kleineren war lockig. Ihr Gesicht drückte Überraschung und gleichzeitig Freude aus. Doch ihre grünen Augen starrten ihm erbarmungslos und gierig entgegen.
     
    Lenas Augen waren blau und strahlten Warmherzigkeit und Liebe aus. Oh, wie er sie vermisste in diesem Augenblick. So stark, dass es ihm das Herz zerreißen wollte. Es raste schneller als er vorher gerannt war. Mit einem letzten, kräftigen Ruck versuchte er, das Felleisen an sich zu reißen. Vergebens. Der Brief! Er musste ihn dem Geschmeidler Heinrich übergeben. Doch sein Leben war ihm mehr wert als jeglicher Verdienst und mehr noch als sein Ruf, der zuverlässigste Bote im Bergischen Land zu sein. Josef ließ Brief und Felleisen zurück und floh.
    Vielleicht würden sie von ihm lassen, wenn sie ihre Beute hatten. Josef blieb nicht stehen, um sich davon zu überzeugen. Die Krammetsvögel – tschack-tschack-tschack –
    trieben ihn an. Er durfte nicht langsamer werden. Er durchquerte eine Lichtung, schutzlos, für seine Verfolger sichtbar und das geeignete Ziel, um ihn erneut mit Steinen zu attackieren.
     
    Die Hütte, in der Lena viele Jahre lang alleine gelebt hatte, stand am Ende einer solchen Lichtung, dicht gedrängt am Waldrand kuschelte sie sich in die Arme der Fichten. Im Sommer wärmte die Sonne das Holz so stark auf, dass die Hitze darin kaum auszuhalten war, im Winter konnte das offene Feuer die Kälte nicht vertreiben. Lenas Eltern waren am Fieber gestorben, als sie nur zehn Jahre alt gewesen war. Sie hatte den Kontakt zu Nachbarn gemieden und sich all die Jahre alleine durchgeschlagen – bis Josef sie im Wald getroffen hatte.
    Er reichte ihr ein paar Beeren, damit auch sie die Krammetsvögel füttern konnte. Sie kicherte und lachte, als die Drosseln ihr die kleinen Früchte aus den Händen pickten. Von diesem Moment an ließ Josef sie nur noch allein, wenn er seine Botengänge erledigen musste. Er zog in ihre kleine Hütte und fortan schien für ihn jeden Tag die Sonne, auch wenn der Regen durchs Dach tropfte. Welches Wetter sie auch hatten, der Gesang der Krammetsvögel weckte sie am Morgen und geleitete sie zu Bett. Obwohl sie nie viel zu essen hatten, streute Lena jeden Tag eine Handvoll Beeren auf das Fenstersims und teilte die Mahlzeit mit ihnen. Die Krammetsvögel hielten sich gerne rund um die Hütte auf und warnten sie vor Strolchen oder wilden Tieren.
    Josef brachte schon viele Jahre Geld und Gold von einem Ort zum anderen, doch alle Schätze, die er mit sich getragen hatte, besaßen keinerlei Wert, denn der größte, unbezahlbare Schatz war Lena, die er zuhause zurücklassen musste. Wenn er unterwegs war, sehnte er sich nach ihr und hoffte, sie bald wieder zu sehen.
    Er rannte.
     
    Josef hoffte zu früh. Er hörte die Freudenschreie, als die Männer den Inhalt seines Felleisens an sich brachten. Doch das Geld reichte ihnen nicht. Sie nahmen die Verfolgung wieder auf, riefen nach ihm, lachten spöttisch, jagten ihn kreuz und quer durch den Wald. Seine Kraft ließ nach.
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