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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger
Autoren: Nicole Rensmann
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den Kragen ihres Mantels los, tastete nach der Waffe in ihrem Halfter, das sie unter dem Mantel versteckt trug, und wandte sich dem stoppenden Zug zu. Die Türen schwangen auf und ein Gemisch aus abgestandenen Gerüchen ergoss sich im gleißenden Neonlicht auf den Bahnsteig. Mia zögerte. Nur kurz, dann rief jemand ihren Namen. Sie ließ die Melancholie auf dem Bahnhof zurück und betrat den Waggon, in den sie bereits in vielen Nächten gestiegen war, um nach Hause zu fahren. Diesmal jedoch würde der Zug seinen Weg nicht fortsetzen, diesmal kam sie auch nicht von der Arbeit. Der Anruf hatte sie vom Geburtstag ihrer besten Freundin geholt. Und Mia war weit entfernt davon, erfreut darüber zu sein, denn eigentlich hatte sie Urlaub und am folgenden Tag einen Trip nach Frankreich geplant.
    »Ich wusste, dass du kommen würdest.« Peter grinste frech und Mia hätte ihm am Liebsten einen Tritt verpasst. Doch er war ihr Vorgesetzter, und auch wenn sie ihn für unfähig hielt, besaß sie Anstand genug, ihm ihre Verachtung nicht zu zeigen. Sie fühlte sich ihm überlegen. Er wusste das. Eine schwierige Konstellation.
    »Darum hast du mich ja auch angerufen. Was ist los?« Mia folgte Peter durch die leeren Zugabteile. Auf einer Bank lag ein aufgeklapptes Buch. Vergessen.
    »Wir haben ihn.«
    Für einen Atemzug – vielleicht auch zwei – schwankte Mia, spürte Übelkeit und glaubte, ihre Lebensaufgabe sei beendet.
    Sie jagte den Bahnsteigmörder seit vier Jahren. Nur einmal war es ihr gelungen, so nah an ihn heranzukommen, dass sie ihn mit der Hand hatte berühren können. Aber es war nicht ihre Falle, sondern seine gewesen, in die sie getappt war.
    »Was macht dich so sicher, dass er es ist?«
    »Er trug die Trophäen seiner Opfer in einem Koffer bei sich.«
    »Und die hat er dir einfach so gezeigt, oder was?«
    »Natürlich nicht. Ein paar Jugendliche haben ihn angemacht und wollten seinen Koffer stehlen, daraufhin ist er ausgerastet. Es gab eine Schlägerei. Der Schaffner hat die Polizei gerufen.«
    »Die öffnen den Koffer, zählen eins und eins zusammen, Mister Murder ergibt sich und alle sind glücklich?« Mia runzelte die Stirn. »Das klingt mir zu einfach.«
    Peter tänzelte nervös um sie herum. »Aber du weißt doch selbst, dass der Zufall oft die schwersten Fälle löst.«
    »Aber nicht diesen hier.«
    Sie hatten den hintersten Waggon erreicht. Warum befanden sich die Täter immer im letzten Zugabteil?
    Die Kollegen führten drei junge Männer ab, von denen einer über seine blutende Nase jammerte und ein Zweiter sich über schlechte Behandlung beschwerte. Nur der Dritte blieb stumm, sein Kiefer war gebrochen, er sah übel zugerichtet aus und würde zuerst auf der Krankenstation landen. Wer immer der Besitzer des Koffers war, er hatte es mit drei halbstarken Schlägern aufgenommen. Ob er tatsächlich gewonnen hatte, blieb fraglich – zumindest aus seiner Sicht.
    Auf der vorletzten Bank, bewacht von Horst und Stephan, den beiden Kollegen, die so oft in ihren Nachtschichten vor Mia am Tatort gewesen waren, hockte ein in sich zusammengesunkener Mann. Mia schätzte ihn auf Mitte vierzig, die Schläfen grau meliert. Als sie näher trat, sah er auf. Markante Gesichtszüge, tiefblaue Augen, die sie naiv und verständnislos ansahen. Das sollte der Mann sein, der auf vierzehn Bahnhöfen in NRW gemordet und der sie eine Woche lang in einem Heizungskeller gefangen gehalten hatte?
    Ihr Instinkt lachte sie aus, und Mia lachte mit.
    »Ich will alleine mit ihm sprechen.« Sie schickte die beiden Beamten weg und deutete auch Peter, Abstand zu halten. Wenn dieser Mann der Bahnsteigmörder war, dann gehörte er ihr. Allein.
    »So sehen wir uns also endlich. Kein Entrinnen, kein Gelabere, keine Ausreden. Wie fühlt sich das an, Arschloch?«
    Der Bahnsteigmörder hatte sie eingesperrt und verhöhnt. Damit hatte sie zu leben gelernt. Aber er hatte in dieser einen Woche, in der er sie handlungsunfähig gemacht hatte, ihre Schwester getötet. Eine Schuld, die schwer auf ihren Schultern lastete und ein Vergehen, das sie niemals verzeihen würde. Sicher nicht.
    Er sah sie an, und als er ihr antwortete, zweifelte sie an ihrem Instinkt. Seine Stimme war die des Bahnsteigmörders. Ihre Knie zitterten und sie musste der Versuchung widerstehen, ihre Waffe zu ziehen und ihn zu erschießen. Notwehr. Die Kollegen hätten die Wahrheit gewusst, aber geschwiegen. Der Mann hatte nichts anderes als den Tod verdient.
    »Ich weiß nicht, was Sie
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