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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger
Autoren: Nicole Rensmann
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meinen. Ich weiß gar nicht, was das alles soll. Ich habe mich doch nur gewehrt.« Er weinte wie ein kleines Kind.
    Mia rührte sich nicht. Irgendetwas stimmte an seiner Aussage und der Situation nicht. Aber sie konnte die Zusammenhänge nicht ineinanderfügen. Noch nicht.
    Seine Stimme. Es war die Stimme, die ihr durch einen Lautsprecher vier Tage lang den Zustand ihrer Schwester mitgeteilt hatte – bis er ihr live erzählt hatte, dass er sie nun erdrosselte. Mia war eine faire Polizistin, aber sie hatte sich geschworen, wenn sie ihn fand, würde sie ihn töten. Und sie wusste, dass sie ihn eines Tages aus seinem Versteck jagen würde. Nur das hielt sie am Leben. Aber verdammt! Das war nicht der Typ, der so viele Menschen auf dem Gewissen hatte, nur die Stimme …
    Konnten zwei Stimmen identisch bis zum Verwechseln sein? »Haben Sie einen Bruder oder Onkel? Lebt ihr Vater noch?« Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust wie zuletzt, als sie das erste Mal den Schrei ihrer Schwester gehört und gewusst hatte, dass sie Louise nicht aus seinen Fängen retten konnte. Vorher hatte er seine Opfer nie entführt, nur bei Mia und Louise hatte er eine Ausnahme gemacht, weil er mit Mia spielen, ihr seine Macht demonstrieren wollte. Es war ihm gelungen.
    Der Mann schüttelte den Kopf, sein Blick wirkte mit einem Mal gehetzt. Kreisend. Über Mias Schulter hinweg, dann auf den Boden, zum linken Fenster, dann zum rechten.
    Fluchtgefahr.
    Nein!
    Mia glaubte, darin Angst zu sehen. Angst aufgeflogen zu sein? Die Furcht, die sich in seinen Augen zeigte, galt jemandem. Sich selbst? Mia?
    Sie drehte sich kurz um und entdeckte Peter, der sich mit Horst und Stephan unterhielt. Routine.
    Mia setzte sich dem Mann gegenüber, dessen Stimme der des Bahnsteigmörders glich, der ihr aber nicht wie ein Serienkiller vorkam. Da war nichts in seinen Augen, wie sie es bei anderen Tätern entdeckt hatte. Außerdem müsste sie intuitiv Hass verspüren und sie wusste, wäre er der Gesuchte, hätte sie längst instinktiv zur Waffe gegriffen. Aber sie fühlte Mitleid und war verwirrt.
    Inszenierung. Dieses Wort sprang durch ihr Gehirn und kickte jeden klaren Gedanken zur Seite.
    »Wie ist Ihr Name?«
    Eine Antwort erhielt sie nicht.
    Mia rückte ein Stück näher und flüsterte: »Sie hatten einen Koffer dabei, was war da drin?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Sein Blick huschte unruhig über den Boden.
    »Warum hatten Sie ihn dann bei sich?«
    »Das sollte ich doch.«
    Na bitte.
    »Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie den Koffer mitnehmen sollen?«
    »Das darf ich nicht sagen.«
    »Verstehe.« Mia starrte einige Sekunden aus dem Fenster und erkannte nichts außer der Nacht, die sich wie ein Schaulustiger gegen die Scheibe presste.
    »Peter!« Ihr Chef sah zu ihr, schickte die beiden Kollegen aus dem Waggon und eilte dann zu ihr, sein Gesicht mit einem Lächeln verunstaltet. Wie er sich freute, wenn sie ihn brauchte. Idiot!
    »Das ist er nicht. Wer ist auf die Idee gekommen zu glauben, dieser Kerl wäre der Bahnsteigmörder?« Peter zog Mia hoch und zur Seite. Eine Geste, die ihr fremd war. Er berührte sie sonst nie.
    »Aber wieso hätte er dann den Koffer mit sich schleppen sollen?«
    »Eben. Wieso sollte der Mörder den Koffer mit seinen Trophäen mit sich herumtragen? Dafür ist der doch viel zu clever. Das ist eine Falle, eine Ablenkung. Aber der Mann«, sie nickte in die Richtung des Verdächtigen, »ist es nicht.«
    »Was sagt dir das?«
    Sie sah ihn an und zog ihre rechte Augenbraue hoch.
    »Intuition. Schon klar.« Peter kannte sie gut – zumindest was diesen Teil ihrer Arbeit betraf.
    »Habt ihr vor mir mit ihm gesprochen?«, fragte Mia.
    »Nein. Der Bahnsteigmörder ist dein Fall und wird es wohl bis zur Pensionierung bleiben.«
    »Ich hatte nicht vor, mit 38 die Marke abzugeben. Wo ist der Koffer?«
    »Bist du dir sicher, dass du dir den Inhalt ansehen willst?«
    »Sicher bin ich mir nicht, aber hier stimmt was nicht, und der Inhalt des Koffers scheint mir zurzeit die einzige richtige Spur zu sein.«
    Peter wandte sich einem Fenster zu, winkte dem auf dem Bahnsteig stehenden Kollegen zu; wortlos setzte sich dieser in Bewegung in Richtung Mannschaftswagen. Keine Minute später stellte er den Koffer vor Peter und Mia ab, nickte und verließ das Abteil. Mia runzelte die Stirn. Sie tastete nach ihrer Waffe. Ihr Herz schlug ein bisschen zu schnell und ihre Hände zitterten. Sie hatte zuletzt so einen Koffer gesehen, als sie die Wohnung ihrer Oma ausgeräumt
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