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Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry

Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry

Titel: Todeskampf - Robotham, M: Todeskampf - The Night Ferry
Autoren: Michael Robotham
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    An dem Tag, an dem man mich auffordert, den Kalender neu zu justieren, werde ich im Januar und Februar jeweils eine Woche wegnehmen und sie dem Oktober hinzufügen, der es verdient hat, mindestens vierzig Tage lang zu dauern.
    Ich liebe diese Jahreszeit. Die Touristen sind schon lange wieder verschwunden und die Kinder zurück in der Schule. Im Fernsehen laufen nicht ständig Wiederholungen, und ich kann wieder unter einem Federbett schlafen. Vor allem jedoch liebe ich das Funkeln in der Luft ohne die Pollen der Platanen, sodass ich Atem holen und unbeschwert laufen kann.
    Ich laufe jeden Morgen – drei Runden um den Victoria Park in Bethnal Green, jede gut eineinhalb Kilometer lang. Gerade komme ich an der Durward Street in Whitechapel vorbei. Jack-the-Ripper-Territorium. Das Opfer, an das ich mich am besten erinnern kann, war Mary Kelly. Sie ist an meinem Geburtstag gestorben, dem 9. November.
    Die Leute vergessen, wie klein das Areal war, in dem sich Jack bewegt hat. Spitalfields, Shoreditch und Whitechapel machen kaum zweieinhalb Quadratkilometer aus, aber 1880 waren mehr als eine Million Menschen in Slums ohne Wasserversorgung und Kanalisation gepfercht. Heute ist die Gegend immer noch übervölkert und arm, aber nur im Vergleich mit Ecken wie Hampstead, Chiswick oder Holland Park. Armut
ist ein relativer Zustand in einem reichen Land voller wohlhabender Menschen, die armselig herumjammern.
    Es ist sieben Jahre her, seit ich zum letzten Mal an einem Rennlauf teilgenommen habe, an einem Septemberabend unter Flutlicht in Birmingham. Ich wollte zur Olympiade nach Sydney, aber nur zwei von uns sollten es schaffen. Vier Hundertstelsekunden trennen die Siegerin von der Fünften; ein halber Meter, ein Herzschlag, ein gebrochenes Herz.
    Inzwischen laufe ich nicht mehr, um zu gewinnen. Ich laufe, weil ich es kann und weil ich schnell bin. So schnell, dass mein Blickfeld an den Rändern verschwimmt. Deswegen bin ich jetzt hier und sause über den Boden, während Schweiß zwischen meinen Brüsten hinabrinnt und mein T-Shirt an meinem Bauch klebt.
    Beim Laufen werden meine Gedanken klarer. Ich denke meistens an meine Arbeit und stelle mir vor, dass mir jemand meinen alten Job wieder anbietet.
    Vor einem Jahr war ich daran beteiligt, eine Entführung aufzuklären und ein vermisstes Mädchen wiederzufinden. Einer der Entführer hat mich auf eine Mauer geworfen und meine Wirbelsäule zertrümmert. Nach sechs Operationen und neun Monaten Physiotherapie bin ich wieder fit und habe mehr Stahl im Rückgrat als Englands Viererabwehrkette. Bei der Metropolitan Police weiß leider offenbar niemand, was er mit mir anfangen soll. Dort hält man mich für ein wackeliges Rädchen in der Maschinerie.
    Auf einem Spielplatz fällt mir ein Mann auf, der auf einer Bank sitzt und Zeitung liest. Kein Kind klettert auf dem Klettergerüst hinter ihm, und die anderen Bänke stehen in der Sonne. Warum hat er den Schatten gewählt?
    Er ist Mitte dreißig, trägt Hemd und Krawatte und hebt den Blick nicht, als ich vorbeilaufe. Er löst ein Kreuzworträtsel. Was für ein Mann löst morgens um diese Uhrzeit Kreuzworträtsel im Park? Ein Mann, der nicht schlafen kann. Ein Mann, der wartet.

    Bis vor einem Jahr habe ich meinen Lebensunterhalt damit bestritten, auf andere Leute aufzupassen. Ich habe Diplomaten und zu Besuch weilende Staatsoberhäupter bewacht, deren Frauen bei Einkaufstouren zu Harrod’s gefahren und ihre Kinder zur Schule gebracht. Es ist wahrscheinlich der langweiligste Job bei der Metropolitan Police, aber ich habe meine Sache gut gemacht. Während meiner fünf Jahre beim Personenschutz für das Diplomatische Korps habe ich keinen einzigen unüberlegten Schuss abgegeben oder auch nur einen Frisörtermin verpasst. Ich war wie einer dieser Soldaten, die in Raketensilos hocken und beten, dass das Telefon nie klingelt.
    Auf meiner zweiten Runde um den Park sitzt er immer noch da. Er hat seine Wildlederjacke in den Schoß gelegt. Er hat Sommersprossen und glatte braune Haare, die zu einem Seitenscheitel nach links gekämmt sind, neben sich eine lederne Aktentasche.
    Eine Böe reißt ihm die Zeitung aus der Hand. Mit drei Schritten bin ich als Erste da. Die Zeitung wickelt sich um meine Knöchel.
    Eine Sekunde lang möchte er sich zurückziehen, als wäre er zu nah an einen Abgrund geraten. Seine Sommersprossen lassen ihn noch jünger wirken. Er meidet direkten Blickkontakt, zieht die Schultern hoch und bedankt sich schüchtern. Die
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