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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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es planen.« Doch in Shorkeys Stimme schwang ein zweifelnder Unterton mit,
als glaube er es nicht.
     
     
     

2
     
    Noch am Mittag dieses Tages wäre ich
höchst erstaunt gewesen, hätte mir jemand gesagt, ich würde die Nacht auf einer
einsamen Insel im Delta verbringen. Noch am Morgen vorher hatte ich in einem
Vormundschaftsfall ausgesagt und den Rest des Tages mit dem Aufarbeiten von
Akten verbracht — Kundenberichte und meine wöchentliche Ausgabenaufstellung.
Mein Schreibtisch bei All Souls war also einigermaßen aufgeräumt, und so fand
ich es gerechtfertigt, den Freitag freizunehmen, ein paar Dinge zu erledigen
und für Patsy etwas Schönes zum Essen vorzubereiten. Sie wollte zum Mittagessen
kommen, weil sie in der Stadt zu tun hatte, aus Gründen, die sie mir später
erklären wollte.
    Der Lunch wurde — wie so viele Dinge in
den letzten Monaten bei mir — zu einer Katastrophe. Als ich meine Schwester zum
letztenmal gesehen hatte, schwor sie gerade auf Vollwertkost und zog ihr
eigenes Gemüse auf einer Farm bei Ukiah, die ihr gehörte. Es gab keinen Grund
anzunehmen, daß sie sich geändert hatte, und ich verstehe überhaupt nichts von
der vegetarischen Küche und hasse Salate. Trotzdem entschloß ich mich, einen
Salat zu machen, mit einer Menge Shrimps und Krabben. Ein Laib Sauerteigbrot,
einen Krug mit geeistem Kräutertee für sie und einer Menge Weißwein für mich — so
sollte der Lunch aussehen. Daß ich wegen des bevorstehenden Treffens mit meiner
Schwester nervös war, hatte mit ihr selbst wenig zu tun. Es hatte vielmehr
damit zu tun, daß ich mich in den letzten Monaten so seltsam fühlte und immer
mehr unfähig war, mit den kleinen Dingen des Lebens locker umzugehen.
    Mit den kleinen Dingen: Wenn ich zum
Beispiel im Restaurant war, konnte ich mich nicht entscheiden, was ich essen
wollte. Oder ich vergeudete Stunden, um meine Bankauszüge bis auf den letzten
Penny nachzurechnen. Jahrelang hatte ich mich um meinen armen alten MG nicht
groß gekümmert, jetzt plötzlich wusch ich ihn jede Woche, wechselte sogar
selbst das öl. Und morgens, wenn ich mir endlich klar war, welches Stück aus
meiner nicht allzu teuren Garderobe ich anziehen sollte, bügelte ich es
peinlich genau, wenn es auch nur leicht zerdrückt war. Die kleinen Dinge: Ich
konzentrierte mich viel zu sehr auf sie, grübelte über sie nach und ließ sie
meine Energie aufbrauchen. Während ich auf Patsy wartete, überlegte ich, ob ich
ein Glas Wein trinken sollte. Was würde Patsy dazu sagen, wenn ich sie mit dem
Glas in der Hand begrüßte? Ach zum Teufel, was kümmerte es mich?
    Aber seit kurzem trank ich tatsächlich
mehr als gewöhnlich. Und warum? Die Antwort war ziemlich einfach — das Trinken
wie das fast besessene Beschäftigen mit den kleinen Dingen war meine nicht sehr
originelle Methode, den großen Dingen aus dem Weg zu gehen.
    Die großen Dinge: Wie zum Beispiel, daß
mir seit kurzem alles so grau in grau erschien, als ob ich die Welt durch eine
schmutzige Scheibe betrachten würde. Häufig spürte ich einen Knoten wie Blei in
meinem Magen, was mir meinen gewöhnlich sehr gesunden Appetit raubte. Ich
dachte häufig an Vergangenes, viel sehnsuchtsvoller, als es die Sache wert war.
Meine Arbeit machte ich mechanisch, immer in der Hoffnung, daß keine große
Sache auftauchte, die zu größeren Anstrengungen zwingen könnte. Und auch aus
der Beziehung mit Dan war die Luft raus. Er hatte es ebenfalls gemerkt. Wir
hatten begonnen, uns aus dem Weg zu gehen. Ja, die großen Dinge — Dinge, an die
ich jetzt nicht denken wollte.
    Wie sich herausstellte, brauchte ich
das auch nicht. Es klingelte an der Haustür, und ich ging öffnen, das Weinglas
in der Hand.
    Die Frau, die auf der Schwelle stand,
war nicht die Patsy, wie ich sie in Erinnerung hatte. Erstens einmal war sie zu
dünn. Ihre Haut wirkte trocken und fahl, die tiefen Linien um den Mund ließen
sie älter aussehen als ihre siebenundzwanzig Jahre. Auf der Farm, als ich sie
zum letztenmal besucht hatte, war sie eher rundlich gewesen, mütterlich, mit
glänzendem braunem Haar und braungebrannter Haut. Diese neue Patsy schenkte mir
ein strahlendes, theatralisches Lächeln, und als wir uns umarmten, roch ich ihr
zu schweres, exotisches Parfüm. Sie trug einen schicken Baumwolloveral, den die
frühere Patsy niemals in ihren Schrank gehängt hätte, und ihr Haar war kurz
geschnitten und stand ihr dank einer Dauerwelle wie ein Heiligenschein um den
Kopf.
    Obwohl ich über ihr
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