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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans
Autoren: Marcia Muller
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Haus. Laster würden Baumaterial und sanitäre Einrichtungen
bringen. In ein paar Wochen mußten die Einrichtungsgegenstände eintreffen, die
Patsy in der Stadt bestellt hatte. Ich bremste und fuhr in die Richtung, in die
der Pfeil auf dem Schild wies. Es war ein steiler Kiesweg. Beim Landesteg stand
links eine Holzhütte, und als die Scheinwerfer meines Wagens darüber
hinglitten, trat ein Mann in karierter Jacke und Jeans heraus und winkte mir,
anzuhalten.
    Das mußte der Fährschiffer sein. Patsy
hatte mir seinen Namen gesagt, doch ich wußte ihn im Augenblick nicht. Ich
kurbelte das Seitenfenster herunter, während er auf den Wagen zutrat.
    Der Mann war etwa fünfzig, groß und
massig mit dichtem schwarzem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Seine Nase war
dünn und schnabelartig, sein linkes Auge wurde von einer schwarzen Augenklappe
verdeckt.
    Ein Pirat, dachte ich.
    Der Pirat beugte sich zum Fenster
herunter. »Miss McCone?«
    »Ja.«
    Er streckte mir seine grobschlächtige
Hand durchs Fenster entgegen. »Ich bin Max Shorkey. Freut mich, daß Sie endlich
da sind. Ihre Schwester hat alle zehn Minuten angerufen. Sie befürchtete, Ihnen
sei etwas passiert.« Er klopfte sich an die Hüfte. Dort hing ein Walkie-talkie,
wie ich jetzt entdeckte.
    »Nein, es ist nichts passiert«, sagte
ich. »Wegen des Regens mußte ich langsamer fahren.«
    »Vermutlich wollen Sie auch — wie die
andern — mit dem Wagen übersetzen, was völlig idiotisch ist.«
    »Wieso?«
    »Weil Sie nirgends hinfahren können,
höchstens durch die Obstgärten. Wäre vernünftiger, die Wagen hier stehen zu
lassen, näher an der Straße.«
    »Warum tun die Leute es dann nicht?«
    »Keine Ahnung. Ich versteh die Städter
sowieso nicht. Das soll keine Beleidigung sein, Ma’am.«
    »Ist schon gut.«
    »Na, dann fahren Sie mal auf die Fähre.
Ich bring Sie rüber.«
    Ich beobachtete, wie er zu einem
flachen Kahn ging, der am Ende der Rampe vertäut und etwa zehn Meter lang war.
Er bot nicht mehr als zwei Wagen Platz. Max Shorkey hakte eine schwere
Eisenkette am Heck los und winkte mir. Ich nahm den Fuß vom Bremspedal und ließ
den MG die Rampe hinunter auf das Boot rollen. Im Rückspiegel sah ich, wie
Shorkey die Kette wieder vorlegte und ins Maschinenhaus ging. Dann begann der
Motor zu stampfen und zu rattern, und wir bewegten uns vom Ufer fort. Ich stieg
aus und ging nach vorn, wobei ich meine dunkelblaue Wolljacke zuknöpfte und die
Kapuze über den Kopf zog. Die Luft war feucht und beißend kalt. Vor mir lag
eine hügelförmige Insel mit einem hellbeleuchteten weißen Haus auf der Spitze.
Es war kein gewöhnliches Haus, vielmehr ein Herrenhaus, riesig groß, aus Stuck,
in einem Stil, der klassizistisch wirkte, mit zwei Stockwerken und ovalen
Giebelfenstern im Mansardendach. Wie viele Zimmer sollte es laut Patsy haben — fünfundvierzig
oder sechsundvierzig?
    Von der Insel selbst konnte ich nicht
viel erkennen, doch das spielte keine Rolle, denn das Herrenhaus zog meine
ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die hohen Fenster und Terrassentüren waren mit
Stuckornamenten und schönen Eisengittern geschmückt. Zypressen, die wie
zusammengefaltete Regenschirme aussahen, standen in regelmäßigen Abständen an
der Vorderseite, an jeder Ecke große Palmen, deren Wedel im immer noch heftigen
Wind hin und her schwangen. Während ich so auf das Haus starrte, öffnete sich
die Haustür, und Patsy kam heraus, gefolgt von ihrer neunjährigen Tochter
Kelley. Sie legte den Arm um Kelley und sprach mit ihr, während sie auf die
Fähre deutete. Kelley begann, auf und ab zu hüpfen.
    »Vermutlich freut sich das Mädchen auf
seine Tante«, sagte Max Shorkey hinter mir.
    Im ersten Augenblick war ich entsetzt,
daß er nicht im Maschinenhaus war und die Fähre steuerte, dann fiel mir ein,
daß das Boot an einem auf dem Fußboden verankerten Kabel entlanglief, wie Patsy
mir erklärt hatte. »Die Tante freut sich auch«, sagte ich. »Ich habe Kelley
nicht mehr gesehen, seit sie sechs Jahre alt war.«
    »Dann stehen Sie Ihrer Schwester wohl
nicht so nahe?«
    »In den letzten Jahren nicht mehr so
sehr.«
    »Na, da können Sie ja die verlorene
Zeit jetzt einholen. Bleiben Sie lange?«
    »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall das
Wochenende.« Ich blickte wieder zum Herrenhaus. Im Näherkommen konnte man die
Risse in den Mauern und die Löcher im Dach erkennen, wo die Ziegel fehlten.
»Glauben Sie, daß es bis zur Sommersaison fertig ist?«
    »Vielleicht, wenn alles so läuft, wie
sie
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