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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen
Autoren: Friedrich Ani
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glauben!
    »Hat’s geschmeckt?«
    »Ja. Wie spät ist es?«
    »Zehn nach halb elf.«
    »Ich muß los.«
    In fünfundzwanzig Minuten fuhr der letzte Zug in ihr Dorf.
    »Der geht aufs Haus.«
    Sie trank den Wodka, bevor sie sich bedankte.
    »Ihr Freund ist nicht gekommen.«
    Sie bezahlte. Das wenige Geld, das sie besaß, hatte ihr der Mann im Hotel beim Abschied in die Tasche gesteckt. Gestern. Danach war sie zum Bahnhof gegangen und von dort wieder weg; die Nacht hatte sie in einer lausigen Pension in der Nähe, nicht weit vom Ost-West-Hotel verbracht. Ebensogut hätte sie zu dem Mann zurückkehren können. Er hatte sie verprügelt; dann hatten sie sich wieder unters Bett gelegt und waren still gewesen. Sie schliefen nicht miteinander; die ganze Zeit, während sie bei ihm war, hatte er sie nicht bedrängt oder berührt; außer als er sie schlug.
    Bis zum Bahnhof brauchte sie fünf Minuten, bis zu seinem Hotel wären es zehn gewesen.
    Auf der Straße, die schwarze Reisetasche neben sich auf dem nassen Asphalt, schwankte sie. Sie legte den Kopf in den Nacken.
    »Schaust mich auch an, Gott?«
    Sie kippte gegen die Hauswand und konnte sich gerade noch mit einer Hand abstützen, stolperte beinah über ihre Tasche.
    Nach einem Blick in die Richtung, die sie einschlagen mußte, nahm sie die Tasche, ging zwei Schritte und stellte die Tasche wieder ab. Ihre Hände zitterten, sie fror, obwohl es nicht kalt war. Als sie bemerkte, daß es zu regnen aufgehört hatte, zog sie den Kopf ein, als würde jeden Moment Hagel auf sie niederprasseln.
    Ohne die Tasche zu nehmen, huschte sie in den Eingang neben einem Waffengeschäft. Sie vergrub die gefalteten Hände unter dem Cape und schlug die Knie aneinander, atmete mit aufgerissenem Mund. Ihr Herz, so schien ihr, schlug über sie hinaus.
    Sie dachte, sie würde sich vor etwas fürchten, das sie kannte.
    Aber sie fürchtete sich vor etwas, das sie nicht kannte.
    Ihr Gott, dem zu dienen ihr nicht geglückt war, dessen Existenz sie jedoch nicht bestritt, hatte begonnen, ihre Stunden zu zählen. Es waren noch vierundzwanzig.

ERSTER TEIL   Mutter

1   Die Erzählung des Tatorts
    B evor er, reglos im Türrahmen stehend, mit seinem Rundblick begann, die Hände in den Hosentaschen, um Fingerabdrücke zu vermeiden, scheinbar unberührt vom Chaos der Gegenstände und dem Anblick eines Toten, konzentrierte er sich auf Geräusche und Gerüche und auf nichts sonst. Dabei ertrug er die Ausdünstungen eines Leichnams ebenso gleichmütig wie das Gemurmel seiner Kollegen. Ein Geruch, ein Geräusch oder die Stille waren für ihn die einzigen unbestechlichen Zeugen einer Gegenwart, die er noch wahrnehmen, deren völlige Auflösung er aber nicht verhindern konnte.
    Die Erzählung des Tatorts erschien Polonius Fischer immer wie eine Art pragmatischer Lüge. Das ärgerte ihn.
    Nicht das ursprüngliche Leben, worauf sein Vorgesetzter und die meisten seiner Kollegen ihre ersten Analysen gründeten, lag mitsamt seinen geheimen Zeichen und Botschaften vor ihm, sondern die neue, klinisch saubere Wirklichkeit des Todes. Die Dinge starrten ihn ebenso kalt an wie die erloschenen Augen des Opfers.
    Wenn er – Hauptkommissar im Kommissariat 111, zuständig für vorsätzliche Tötungs und Todesfolgendelikte und gefährliche Körperverletzung mit Schußwaffe – an einem bestimmten Ort auftauchte, hatte alles, was bisher dort gewesen war, zu sein aufgehört. Polonius Fischer weigerte sich, einem Tatort zu glauben. Er glaubte nicht an einen magischen Realismus, in dem das Profil des Täters zu erkennen sei; er glaubte nicht an ein Profil.
    Von den Mördern und Totschlägern, die er in den vierzehn Jahren bei der Mordkommission vernommen und überführt hatte, entsprach kein einziger einem vorher angefertigten Profil. Nach Fischers Meinung mangelte es ihnen überhaupt daran: Durchschnittlich bis zur Unkenntlichkeit, hatten die Täter ihren Alltag durchpflügt, bis ihnen jemand in die Quere kam und in ihren mickrigen Furchen herumtrampelte; dann schlugen oder stachen sie zu oder benutzten eine Schußwaffe, und wenn man sie fragte, warum, starrten sie an die Decke wie ein Toter oder stammelten Zeug. Motive waren beweis und belegbar, und nach dem Abschluß der Ermittlungen übergab Fischer der Staatsanwaltschaft eine Akte, deren fundierte Aussagen zwangsläufig zu einer Anklageerhebung führten.
    Fischer nahm sich Zeit. Gemäß einer Anordnung von Silvester Weningstedt, dem Leiter der Mordkommission, mußte jeder
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