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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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Füße stillgehalten, und ich habe immerhin drei Stunden am Stück geschlafen, bin also gut ausgeruht.
    Gemütlich sitze ich auf dem Bett, frühstücke Obst und einen Energieriegel und freue mich auf die nächste Etappe des Laufs. Heute liegt quasi ein Ruhetag vor mir: Es steht nur der Bergsprint an, über die Strecke von etwas über sechs Kilometern und neunhundert Höhenmetern. Die Etappe wird heute zwar teamweise gestartet, aber jeder darf auch einzeln ins Ziel kommen, ohne disqualifiziert zu werden. Entspannt lasse ich meine Gedanken schweifen.
    Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht, aber plötzlich liege ich vor dem Bett. Ich gehe davon aus, dass Och mir Strom verpasst hat. Mitbekommen habe ich es nicht.
    Schweißgebadet und zitternd hangle ich mich aufs Bett zurück. Ich atme tief durch und versuche, mich zu beruhigen. Wenn Harald vom Frühstück mit Tina zurückkommt, darf ich mir auf keinen Fall anmerken lassen, dass es mir schlecht geht. Ich will diesen Bergsprint schaffen, unbedingt.
    Als ich mit Harald eine Stunde später in Richtung Start aufbreche, ist mir übel und schwindelig, und ich fühle mich schwach. Bis zu unserem Start um zehn Uhr vierundzwanzig ringe ich mit dem Tod.
    Vielleicht war ich zu aufmüpfig, denn heute will er es wirklich wissen. Er erwischt mich vor einem mobilen Toilettenhäuschen am Start. Hilflos liege ich da, und Och liefert sich einen siegreichen Kampf mit dem Mann in Schwarz.
    Wenig später stehe ich, auf Haralds Stöcke gestützt, am Start. Ich bin leichenblass und zittere trotz Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen. Meine Zweifel sind groß, ob ich diese sechs Kilometer bis ins Ziel schaffen kann. Aber ich will es unbedingt probieren, und ich kann auf die volle Unterstützung von Harald und dem Team von Plan B zählen.
    Wir werden auf die Strecke geschickt. Jetzt gilt es: Zähne zusammenbeißen und durch. Langsam quäle ich mich bergauf, immer auf die Stöcke gestützt. Meter für Meter schleppe ich mich nach oben. Nur nach vorne, nur nicht stehenbleiben.
    Die Strecke kenne ich bereits, denn gestern kam ich genau auf demselben Weg voller Euphorie nach Scuol hinunter.
    Harald und ich werden von den hinter uns gestarteten Teams überholt, und meine Kräfte reichen nicht, um die schwächeren Teams, die dreißig Sekunden vor uns gestartet sind, einzuholen. Aber das ist uns völlig egal.
    Der Boden scheint sich unter mir zu drehen. Ich fange an, die Schritte zu zählen, um mich nur darauf zu konzentrieren, vorwärtszukommen. Nach rund zwanzig Minuten habe ich meinen eigenen Rhythmus gefunden, der angesichts des vielen Stroms, den ich heute schon abbekommen habe, sehr langsam ist.
    Wir kommen stetig vorwärts, und heute gibt es glücklicherweise kein Zeitlimit, das uns unter Druck setzt. Mein größter Feind bin ich selbst.
    Endlich ist Land in Sicht: Wir sehen den großen Zielbogen, die Beachflags der Sponsoren, hören Musik und Sven, den Moderator.
    Auf den letzten zweihundert Metern gebe ich die Stöcke ab und stütze mich auf Haralds Hand. Gemeinsam überqueren wir die Ziellinie. Wir haben es mal wieder geschafft. Die Zeit von einer Stunde und siebenundzwanzig Minuten ist zwar keine Glanzleistung. Aber wir sind noch im Rennen, und ich lebe.
    Einer der Ärzte wartet schon am Ziel auf mich. Wir vereinbaren einen Termin am Rescue-Zelt im Start-Ziel-Bereich, wo ich ein bisschen aufgepäppelt werden soll.
    Zunächst gehen Harald und ich jedoch in die Bergstation, wo ein reichhaltiges Buffet für uns Läufer aufgebaut ist, und greifen bei den Leckereien ordentlich zu. Ich stopfe alles in mich rein, was irgendwie geht, denn ich habe die Hoffnung, dass Essen mir in meinem schlechten Zustand hilft.
    Den Weg zurück nach Scuol müssen wir zum Glück nicht laufen, sondern werden in kleinen Bussen hingefahren.
    Dort gehe ich wie besprochen zum Zelt des Rescue-Teams, wo schon Nico, Lutz und Christa auf mich warten. Ich bekomme eine Infusion mit Magnesium verabreicht. Es gibt zwar keine medizinischen Beweise, dass Magnesium bei Herzrhythmusstörungen, wie ich sie habe, hilft, aber bisher habe ich mich danach immer wohler gefühlt. Darum geht es letztendlich. Während ich daliege und die Flüssigkeit in meinen Arm läuft, plaudere ich mit Christa, und auch Nico und Lutz schauen immer mal wieder vorbei. Lutz verpasst mir einen lustigen Spitznamen: Grittywoman.
    Harald nennt mich immer noch ab und zu so. Vor allem dann, wenn ich etwas Besonderes geleistet habe – sozusagen in Erinnerung
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