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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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nächste Geröllfeld, mit Kräfte raubendem Anstieg. Glücklicherweise haben Harald und ich erneut eine Gruppe gefunden, an die wir uns dranhängen können. Dennoch ist der Aufstieg auf den 2636 Meter hohen Gipfel die pure Qual für mich. Ich schleiche wie ein Affe, die Arme fast am Boden hängend, vor Harald den Berg hinauf. Mein Atem geht schwer, die Beine brennen, der Herzrhythmus ist unruhig, und ich kämpfe um jeden Meter. Dann ist endlich eine Beachflag in Sicht, die den höchsten Punkt kennzeichnet. Das Ende der Quälerei.
    Oben angekommen, offenbart sich zum zweiten Mal an diesem Tag eine wunderschöne Bergkulisse, aber auch die kann meine Hysterie nicht bremsen. Ich japse nach Luft und verlange unter Tränen nach der Trinkflasche und einem Energieriegel. Die Nerven liegen blank, denn mein Herz scheint nicht mehr mitmachen zu wollen.
    Ein paar Minuten später finde ich wieder zu meiner gewohnt optimistischen Haltung zurück, und die Reise kann weitergehen. Aufgeben ist keine Option, und wir stürzen uns regelrecht in den Abstieg. Fünfhundert Höhenmeter sind es bis zur letzten Verpflegungsstation – und das nur bergab.
    Zwanzig Minuten vor cut off erreichen Harald und ich die letzte Kontrollstelle auf der Friedrichshafener Hütte.
    Dort treffen wir Christian, einen Laufkollegen, der mit dickem Fuß in der Hütte sitzt. Er ist umgeknickt und muss den Transalpine-Run beenden. Wir nehmen uns Zeit für einen kurzen Plausch, während wir etwas essen und trinken.
    Dann geht es die letzten sechs Kilometer über kleinere Trails hinab ins Ziel nach Galtür. Drei Kilometer vor Zieleinlauf riskieren wir einen Blick auf die Uhr: Eine Zeit unter acht Stunden ist möglich. Das spornt uns an. An Laufen ist zwar nicht mehr zu denken, aber wir gehen zügig.
    Die letzten Meter ins Ziel joggen wir dann doch. Wir sind überglücklich, die heutige Etappe erfolgreich beendet zu haben, wieder Hand in Hand, als echtes Team. Heute haben wir in sieben Stunden und siebenundfünfzig Minuten fast dreiunddreißig Kilometer und 2437 Höhenmeter bewältigt. Ich bin einmal mehr erstaunt, welche Leistungen mein Körper erbringen kann.
    Auch heute lasse ich die Pasta-Party ausfallen und werde von Tina mit Nudeln und Salat auf dem Zimmer verpflegt. Nach dem Essen sitze ich im Hotel auf dem Sofa und beobachte den Sonnenuntergang vor einer grandiosen Bergkulisse, während Harald und Tina sich bei der Pasta-Party vergnügen. Ich bin entspannt und guter Dinge und freue mich auf die morgige vierte Etappe.
    Schlaf zu finden ist bei solchen Belastungen nicht leicht. Der Körper ist überlastet und kommt nur schwer zur Ruhe. Ich kann zwar auch nicht viel schlafen, aber das ist bei mir normal. Denn je ruhiger ich bin, desto unruhiger wird mein Herzrhythmus, und das hält mich oft wach. Ich habe gelernt, mich mit Musik zu entspannen. Auch im Hotel in Galtür habe ich den MP3-Player als Entspannungshilfe auf den Ohren. Und irgendwann schlafe ich ein.
    Unsanft werde ich von Och gegen vier Uhr morgens geweckt. Er gibt eine gute Ladung Strom an mich ab. Ich bleibe einfach auf dem Rücken liegen und starre ins Dunkel.
    Harald ist besorgt und weiß nicht, ob er mich morgen mit in die Schweiz nehmen soll. Er hat Angst, dass auch dann mein Herz aussetzen und mir etwas zustoßen könnte.
    Aber natürlich will ich unbedingt weiterlaufen, denn die nächste Etappe ist schon Halbzeit. Ich will mir das Leben nicht von meiner Krankheit diktieren lassen. Genau genommen will ich das nie, und ich kämpfe immer wieder dagegen an. Ein sinnloser Kampf, wenn man es genau betrachtet. Denn die Krankheit macht letztlich doch mit mir, was sie will. Rücksichtslos zerstört sie Pläne, Träume, Ziele und lässt mich immer wieder einsam zurück.
    Am nächsten Morgen stehe ich wieder neben Harald im Startfeld. Ich weiß, dass das nicht leicht für ihn ist. Aber er weiß auch, was es mir bedeutet, meine Träume zu verwirklichen.
    Wieder ist es bitterkalt, aber das ist nicht meine einzige Sorge. Mein Herz schlägt unrhythmische Saltos, und ich habe Bedenken, dass der Lauf vielleicht doch eine Nummer zu groß für mich ist.
    Die Hymne Keep on Running , die heute live von Matty gesungen wird, kann ich leider nicht so intensiv wahrnehmen, wie ich es gerne täte. Ich bin damit beschäftigt, meinen Herzrhythmus unter Kontrolle zu halten. Ein fast auswegloses Unterfangen.
    Der Startschuss um neun Uhr ist so etwas wie eine Erlösung für mich. Vorwärts will ich, immer weiter, bloß nicht
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