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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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erkämpftes Stück zurück. Wir kommen nur langsam voran. Ich entwickle eine Alternative zur Affentechnik, indem ich die Hände auf die Oberschenkel stütze. Ob das effektiver ist, weiß ich zwar nicht, aber zumindest sieht es nicht ganz so bescheuert aus wie die baumelnden Affenarme.
    Dann ist es so weit: Wir haben den höchsten Punkt des Transalpine-Run, die Rappenscharte, endlich erreicht. Dreitausend Meter über dem Meer. Obwohl wir keine Fernsicht haben, fühle ich mich einen Moment lang ganz groß – so groß, dass ich eine Wolke pflücken könnte. Ein erhebendes Gefühl.
    Allerdings ist auf über dreitausend Metern die Luft dünn, der Wind eisig und die Aussicht an diesem Tag leider nicht berauschend. Nebelschwaden und Regenwolken ziehen auf, dann beginnt es zu graupeln. Ich zerre eine dicke Jacke aus dem Rucksack und ziehe sie über.
    Schnell beginnen wir den Abstieg. So steil, wie es hochging, geht es auch wieder hinunter. Harald und ich stürzen uns regelrecht durchs Geröll in die Tiefe und rutschen mehr, als wir laufen.
    Nach etwas unter sechs Stunden – genau im Zeitlimit – erreichen wir den letzten Kontrollpunkt des Tages, die Kortscher Alm auf rund zweitausend Metern. Graupel und Regen haben aufgehört, und ich kann die dicke Jacke wieder im Rucksack verstauen. Wir stärken uns schnell, bevor wir weiter talwärts laufen.
    Die nächsten 1400 Höhenmeter geht es über Forststraßen und eine Rodelbahn hinab nach Schlanders. Es ist so steil, dass die Sehnen knirschen und die Knie schreien. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.
    Unterwegs kommen Harald und ich an einem Gatter mit der Aufschrift: »Vorsicht! Freilaufender wilder Stier!«, vorbei. Auch das kann uns nicht aufhalten. Mutig öffnen wir das Gatter, denn anders gelangen wir nicht auf den Weg ins Tal, und halten argwöhnisch nach wilden Stieren Ausschau. Stattdessen sehen wir nur zufrieden grasende Kühe. Entweder ist der wilde Stier von den vorangegangenen Läufern schon so beeindruckt, dass er friedlich ist, oder er grast heute in einem anderen Revier.
    Wir lassen Kilometer um Kilometer hinter uns. Das Ziel scheint nicht näher zu kommen. Dafür brennt die Sonne vom Himmel.
    Nach sieben Stunden und einunddreißig Minuten, fünfunddreißig Kilometern und 2145 Höhenmetern gelangen Harald und ich ins Ziel. Wieder Hand in Hand.
    Selbst nach der erfolgreich bewältigten Etappe dieses Tages sind die Zweifel stärker als die Zuversicht. Die Nerven liegen blank. Uns trennen noch neunundzwanzig Kilometer vom Ziel in Latsch. Ich lasse den Tränen freien Lauf und kann mich gar nicht mehr beruhigen. Heulend sitze ich in einem Liegestuhl im Zielbereich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die morgige Etappe schaffen soll. Ich weiß ja nicht einmal, wie ich noch ins zweihundert Meter entfernte Hotel kommen soll.
    Aufmunternde Worte von Uta von Plan B, Schokolade von Tina und Haralds gute Nachricht, dass ich nachher noch mal eine Magnesium-Infusion vom Rescue-Team bekomme, lassen die Tränen versiegen.
    Nach einer entspannend heißen Dusche liege ich wenig später auf dem Balkon mit Blick auf die Berge in der Sonne, und Christa hängt mir die Infusion an. Ich bin dankbar, dass ich medizinisch so gut versorgt werde.
    Abends gehen Harald, Tina und ich gemeinsam zur Pasta-Party. Einmal will ich auch beim geselligen Teil des Transalpine-Run mit dabei sein. Die Stimmung dort ist wirklich gut und das Essen lecker. Aber ich bin müde und damit beschäftigt, meine Herzachterbahn in Schach zu halten, und daher bleiben wir nicht allzu lange.
    Auch in dieser Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Als ich im Bett liege, wälze ich mich von einer Seite auf die andere und stelle mir vor, wie es sein könnte, wenn Harald und ich es morgen ins Ziel nach Latsch schaffen würden. Ich bin nervös und angespannt. Irgendwann dämmere ich doch weg.
    Morgens um vier Uhr jagen einmal mehr achthundert Volt durch meinen Körper. Och ist in vollem Einsatz, auch am Tag der letzten Etappe. Still und lautlos ertrage ich, was mit mir geschieht. Ich habe Panik, danach noch mal die Augen zu schließen. Also mache ich den Fernseher an und schaue blödsinnige Talkshows, bis endlich die Sonne aufgeht und ich aufstehen kann.
    Gemeinsam mit Harald und Tina gehe ich frühstücken. Ich bekomme fast keinen Bissen hinunter. Mir ist übel und schwindelig, und dicke Tränen tropfen auf meinen Teller. Ich fühle mich klein, schwach und machtlos. Mein Kampfgeist liegt darnieder. Und die Angst nimmt
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