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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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erwartet uns. Es ist der höchste Punkt des Transalpine-Run und liegt auf über dreitausend Metern. Morgen müssen wir also noch einmal hoch hinaus, um in Schlanders anzukommen. Ich bin nervös und fürchte mich vor dem Berg, der es allen Erzählungen nach in sich hat.
    Unruhig wälze ich mich im Bett hin und her, zwischen Frösteln und Hitzewallungen. Entspannung und Ruhe finde ich nicht.
    Noch bevor der Wecker klingelt, weckt Och mich mit einer Stromabgabe. Diesmal bin ich überhaupt nicht locker und cool, sondern weine ganz fürchterlich. Selbst Harald gelingt es nicht, mich zu beruhigen. Ich fühle mich vom Leben benachteiligt und bade im Selbstmitleid, was bei mir Seltenheitswert hat.
    Es sind doch nur noch zwei Etappen. Warum will mir jemand so kurz vor Schluss einen Strich durch die Rechnung machen? Einmal mehr stelle ich fest, dass man auf die Warum-Fragen selten eine befriedigende Antwort bekommt.
    Ich quäle mich in die Laufklamotten und die inzwischen heißgeliebten Trailrunning-Schuhe. Verzweifelt versuche ich, mir einen Energieriegel und eine Banane einzuverleiben. Doch mir ist übel. Mit viel Flüssigkeit spüle ich die Nahrung herunter, denn ich weiß, dass ich ohne Frühstück gar nicht erst an den Start zu gehen brauche.
    Auf dem Weg zum Start ist mir schwindelig, und ich friere trotz zweistelliger Temperaturen. Der Himmel ist wolkenverhangen, unsere Stimmung auf dem Tiefpunkt. Ich kann kaum stehen, mein Herz veranstaltet eine Achterbahnfahrt. Völlig verzweifelt stehe ich weinend in der Startbox.
    Auch Haralds Nerven liegen blank, und er hat total miese Stimmung. Zum ersten Mal geraten wir während dieses Wettkampfs aneinander. Die Harmonie, die uns die letzten sechs Tage verbunden und über die Berge getragen hat, ist dahin.
    Nach dem Startschuss rennt Harald los, ich kann ihm nicht folgen. Er ist wütend, ich bin wütend. So laufen wir in einer großen Gruppe durch Obstwiesen immer stetig bergauf, ohne den anderen auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Nach ein paar Kilometern wartet Harald auf mich und nimmt meine Hand. Wir sagen nichts, denn jeder weiß, was im jeweils anderen gerade vor sich geht. Uns quält die Ohnmacht, nichts außer Och gegen den lauernden Tod in der Hand zu haben. Wenn diese Ohnmacht zu groß wird, schlägt sie manchmal in Wut um. Diese Wut richtet sich nicht gegen den Partner, sondern gegen das Leben, das in solchen Augenblicken völlig sinnlos und absurd erscheint. Und genau deshalb hält diese Wut auch nie lange an. Zum Glück.
    Wir bilden also wieder unser bewährtes Team – ich vorneweg, Harald dicht auf meinen Fersen.
    Am Anfang ist die Lauferei noch angenehm, doch dann führt uns ein schmaler Weg an einer Almwiese entlang. Mal müssen wir gehen, weil es zu steil oder zu schmal wird, dann können wir wieder ein paar Meter rennen. Das macht wenig Spaß, und zu allem Übel fängt es auch noch an zu nieseln.
    Irgendwann, ungefähr bei Kilometer neun, sind wir dann wieder auf Asphalt unterwegs und passieren ein kleines Dorf namens Matsch. Dort sitzen ein paar Kinder auf einem Gartenzaun wie die Hühner auf der Stange, klatschen uns ab und feuern uns mit ohrenbetäubendem Tröten an. Das ist ein schönes Erlebnis und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.
    Es liegen noch sechs Kilometer bis zum ersten Kontrollpunkt vor uns. Wir laufen auf einer kleinen Straße, der Nieselregen hat aufgehört, und es geht stetig bergauf. Schon bevor wir ihn sehen können, hören wir Moderator Sven, der am ersten Verpflegungspunkt für Partystimmung sorgt und die Läufer mit den Worten: »Rappenscharte is waiting«, anspornt.
    Von der Verpflegungsstelle aus erscheint der Berg noch relativ harmlos, doch dieser Eindruck täuscht. Angefeuert von Sven und frisch gestärkt beginnen Harald und ich mit einem Zeitpolster von rund vierzig Minuten den Aufstieg zur Rappenscharte.
    Gnadenlos geht es stetig und immer steiler durch wegloses Gelände bergauf. Ich lasse die Arme baumeln, tief nach vorne gebeugt – meine bewährte Affentechnik kommt wieder zum Einsatz.
    Als wir das Hochplateau erreichen, machen wir eine kurze Verschnaufpause.
    Dann geht es weiter über endlos viele Steine. Hochkonzentriert setzen wir einen Fuß vor den anderen. Auf Felsbrocken folgt Geröll. Ich mache einen Schritt vorwärts und rutsche gleich wieder zurück. Es ist so steil, dass wir praktisch senkrecht zum Berg stehen. Wenn wir stehenbleiben, ist das ziemlich fatal, denn dann rutschen wir sogleich wieder ein hart
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