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Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber
Autoren: Daniel Silva
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PROLO G WIEN, JANUAR 199 1
    Der Restaurator klappte seine Lupenbrille hoch und schaltete die in mehreren Reihen übereinander angeordneten Leuchtstoffröhren aus. Er wartete, bis seine Augen sich ans abendliche Halbdunkel im Stephansdom gewöhnt hatten; dann begutachtete er einen winzigen Teil des Gemäldes knapp unterhalb einer Pfeilwunde im Bein des hl. Stephan. Im Lauf der Jahrhunderte war die Farbe dort bis auf die Leinwand abgetragen worden. Der Restaurator hatte die Beschädigung so sorgfältig ausgebessert, daß es jetzt ohne spezielle Geräte praktisch unmöglich war, seine Arbeit vom Original zu unterscheiden, was bedeutete, daß er in der Tat sehr gute Arbeit geleistet hatte.
    Der Restaurator hockte auf seiner Arbeitsbühne, reinigtePinsel und Palette und verstaute seine Öle und Pigmente in einem flachen rechteckigen Kasten aus poliertem Holz. Die herabsinkende Dunkelheit hatte die hohen farbigen Glasfenster des Doms scheinbar schwarz werden lassen; frisch gefallener Schnee hatte das gewohnte Treiben der Wiener Innenstadt gedämpft. Im Stephansdom war es so still, daß der Restaurator nicht überrascht gewesen wäre, einen mittelalterlichen Kirchendiener bei Fackelschein durchs Hauptschiff huschen zu sehen.
    Er kletterte katzenartig gewandt von dem hohen Gerüst und sprang lautlos auf den Steinboden der Seitenkapelle hinunter. Eine kleine Gruppe von Touristen hatte ihm einige Minuten lang bei der Arbeit zugesehen. Im allgemeinen hatte der Restaurator etwas gegen Gaffer an manchen Tagen verhängte er die Arbeitsbühne sogar mit grauen Plastikplanen. Die heutige Zuschauergruppe löste sich auf, als er einen Dufflecoat anzog und seine Wollmütze aufsetzte. Er begrüßte sie mit einem sanften »Buona sera« und prägte sich dabei instinktiv jedes einzelne Gesicht so dauerhaft ein, als sei es mit Öl auf Leinwand gemalt.
    Eine attraktive junge Deutsche versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sprach ihn in miserablem Italienisch an. Der Restaurator erklärte ihr in fließendem Deutsch mit Berliner Färbung - seine Mutter hatte vor dem Krieg in Charlottenburg gewohnt -, er habe wegen eines dringenden Termins leider keine Zeit, sich mit ihr zu unterhalten. Bei deutschen Frauen war ihm immer etwas unbehaglich zumute. Sein Blick glitt reflexartig über sie hinweg - über ihren großen, vollen Busen, ihre langen Beine hinauf und hinunter. Sie hielt seine Aufmerksamkeit fälschlicherweise für einen Flirtversuch, legte ihren Kopf leicht schief, lächelte ihn durch eine flachsblonde Locke hindurch an und schlug vor, auf einen Kaffee in ein Lokal gegenüber zu gehen. Der Restaurator entschuldigte sich, er habe es wirklich eilig. »Außerdem«, sagte er, indem er ins hochgewölbte Kirchenschiff aufblickte, »sind wir hier im Stephansdom, Fräulein. Nicht in einer Singlebar.«
    Wenig später verließ er den Dom durchs Hauptportal und ging quer über den Stephansplatz. Er war nur mittelgroß, deutlich unter einem Meter achtzig. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen grau meliert. Seine Nase war ziemlich lang und kantig, mit scharfen Rändern am Nasensattel, die fast vermuten ließen, sie sei aus Holz geschnitzt. Volle Lippen, Grübchen im Kinn, breite, markante Backenknochen. In seinen Augen lag eine Andeutung russischer Steppen - mandelförmig, unnatürlich grün, sehr beweglich. Trotz seiner die Augen anstrengenden Arbeit war sein Sehvermögen ausgezeichnet. Sein Gang wirkte selbstbewußt: kein großspuriges Stolzieren oder Marschieren, sondern ein energischer, zielstrebiger Schritt, der ihn mühelos über den verschneiten Platz zu tragen schien. Der Holzkasten mit seinen Farben und Pinseln steckte so unter seinem linken Arm, daß er auf dem Metallgegenstand ruhte, den er gewohnheitsmäßig an seiner linken Hüfte trug.
    Er folgte der Rotenturmstraße, einer von glitzernden Läden und Cafes gesäumten breiten Fußgängerzone, blieb zwischendurch mehrmals vor Schaufenstern stehen und begutachtete Montblanc-Füller und Rolex-Armbanduhren, obwohl er keine Verwendung für solche Dinge hatte. Er machte an einem verschneiten Würstelstand halt, kaufte eine Klobasse und warf sie hundert Meter weiter in einen Abfallkorb, ohne sie auch nur angebissen zu haben. Er betrat eine Telefonzelle, warf einen Schilling ein, tippte willkürlich irgendeine Nummer ein und suchte dabei die Straße und die Schaufenster in der näheren Umgebung mit den Augen ab. »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, teilte ihm eine Tonbandstimme
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