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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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von meiner Verlagslektorin das redigierte Manuskript meines neuen Romans zurück. »Lieber Wladimir«, schrieb mir die Lektorin, »in deinem neuen Roman kommt einundsiebzigmal das Wort ›Scheiße‹ vor. So etwas erwartet man von einem Kaminer nicht.« Deswegen hatte meine Lektorin fleißig einundsiebzigmal »Scheiße« in »Mist« umgeschrieben. In manchen Fällen gab ich ihr Recht, wenn zum Beispiel in einem Satz mehr als zweimal ein und dasselbe Wort vorkommt, dann wirkt es irgendwie arm. Sonst konnte ich mir die Sorgen meiner Lektorin nur mit »Münchner Dialekt« erklären. Denn mein Verlag sitzt in München und ich in Berlin. Zwischen beiden Städten liegen Welten. Zu jedem Scheiß sagte man in München Mist und bei uns umgekehrt. Was soll’s! Fast jeder hier hat einen eigenen Dialekt. Ich suchte laut nach neuen Worten.
    »Idioten!«, sagte mein Sohn und lachte.

Fauna auf der Schönhauser Allee
    Wer in einer Großstadt aufwächst, hat kaum Zugang zur Tierwelt. Wenn zum Beispiel meine Kinder in den Zoo gehen, sind sie ziemlich misstrauisch den dortigen Bewohnern gegenüber. Die staubigen Kamele, die ständig um sich kackenden Elefanten und die schlecht riechenden Löwen nehmen sie als Lebewesen fast gar nicht wahr. Viel vertrauter wirken auf sie dagegen die alten Bekannten aus dem Fernsehen: die mutige Biene Maja und der junge intelligente Hirsch Bambi oder die anderen sprechenden Tiere aus den Kinderbüchern. Sie sehen gut aus, tragen saubere Unterwäsche und riechen nicht nach vergammelten Fritten.
    Deswegen haben meine Kinder von ihrem letzten Zoobesuch nur solche Erinnerungen behalten, die nichts mit der Fauna zu tun haben. Mein vierjähriger Sohn schwärmte noch lange von einem großen verrosteten Rohr, das dort in einer Ecke gelegen hatte und in das er hineingekrochen war, und meine Tochter war von der U-Bahn-Fahrt und der Fahrkarten-Kontrolle viel mehr beeindruckt als von den Tieren im Zoo. Mehr Herz für Tiere kann man von Großstadtkindern kaum erwarten, denn in ihrem alltäglichen Leben treffen sie so gut wie nie aufeinander. Die Fauna bei uns im Prenzlauer Berg ist recht karg. Es gibt nichts außer ein paar Heuschrecken und Ratten am Arnimplatz, die von dem dortigen Alkoholiker-Verband ernährt werden, und ein paar platt gefahrenen Tauben auf der Schönhauser Allee, die man den Kindern am besten gar nicht zeigen soll, weil sie ihre ursprüngliche Vogelform endgültig verloren haben und zum Zweck der Tierwelterklärung nicht mehr taugen.
    Darüber hinaus kann man an manchen sonnigen Tagen mit Glück ein oder sogar mehrere Kaninchen im Ernst-Thälmann-Park an der S-Bahn-Kurve erwischen. Doch diese Viecher haben keinen natürlichen Ursprung. Sie werden dort von den zahlreichen Kanincheninhabern des Bezirkes hingebracht, die einfach zu viel davon haben oder keinen Platz mehr auf dem Balkon. Im Ernst-Thälmann-Park vermehren sich die überflüssigen Kaninchen munter weiter. Immer wieder beobachte ich hier außerdem einen fetten Wellensittich, der auf dem Asphalt sitzt.
    Diese kleinen niedlichen Wesen neigen dazu, aus Fenstern zu fallen. Wahrscheinlich wollen sie sich selbst und anderen beweisen, dass sie fliegen können. Und oft stimmt es sogar, sie können es. Nur wohin? Also sitzen sie da und überlegen. Sofort umkreisen Dutzende hungriger Spatzen einen solchen Wellensittich. Sie meinen es nicht gut mit ihm. Um in Prenzlauer Berg als Vogel zu überleben, muss man klein, schnell und asphaltgrau sein, keine Angst vor der Straßenbahn haben und im Flug einen halben Kilo schweren Döner Kebap aus den Händen von Fußgängern reißen können. Das kann ein Wellensittich nicht! Nein, das kann er nicht. Diese bunten Exoten haben auf der Straße keine Chance. Deswegen fliegen sie, wenn sie nicht blöd sind, zu den Rieselfeldern am Rande der Stadt und bilden dort Schwärme.
    Mein Freund und Kollege Helmut Höge erzählte mir neulich, dass die wild gewordenen Wellensittiche an der Falkenberger Chaussee sogar alle andere Arten verdrängt haben und nun die Ränder von Lichtenberg dominieren. Und das ist wiederum das Gute an einer Großstadt, dass hier jede Fauna ein kleines Streifchen Erde für sich findet, wo sie dann weiterwachsen und gedeihen kann, wenn sie nicht von einem Laster überfahren wird.

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