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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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Ich öffnete die Augen – die zweieiigen Zwillinge standen neben meinem Bett und betrachteten mich aufmerksam.
    »Hast du geschlafen? Warum hast du geschlafen?«
    »Warum nicht?«, konterte ich.
    »Wo gehst du hin? Ins Bad? Was willst du im Bad? Duschen? Wieso duschen? Hast du viel Geld?«
    Ich versteckte mich für eine Weile unter der Dusche. Als ich rauskam, standen die beiden vor der Tür.
    »Warst du unter der Dusche? Warum sind hier alle Häuser so alt und klein? Wie heißt Deutsch auf Deutsch? Wo liegt dein Geld?«
    Zuerst versuchte ich, ehrliche Antworten zu geben, kam aber auf Dauer nicht hinterher und verstummte. Ich machte sogar ein böses Gesicht und knirschte mit den Zähnen, wenn sie mich ansprachen. Das beeindruckte die Zwillinge aber in keiner Weise. Meine Cousine war weder an Berliner Architektur noch an spannender Unterhaltung interessiert. Sie wollte nur ein wenig Ruhe haben und reservierte sich gleich am ersten Tag einen tollen Platz auf dem Balkon. Unsere Balkontür ließ sich auch von außen verriegeln, so war Jana nun den ganzen Tag sicher. Sie rauchte und las Bücher, die sie aus Moskau mitgebracht hatte: Harry Potter auf Russisch, Im Wahn der Liebe und Das zerbrochene Herz.
    »Jana, dein einer Sohn will Milch mit Apfelsaft mischen, darf er das?«, schrie ich durch die Balkontür.
    »Dein anderer Sohn hat schon zwei Kilo Pommes verschluckt und will noch mehr. Ist das okay?«
    Jana war fest davon überzeugt, dass ihren Zwillingen nichts schaden konnte, egal, was sie aßen, tranken oder sonst taten. So ging es drei Wochen lang. Wir hatten uns schon alle an die Zwillinge gewöhnt. Ich konnte sogar Tim von Tom unterscheiden. Da klappte Jana ihre Romane zu und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken – sie musste nach Moskau zurück. Mit dem Taxi brachten wir sie zum Bahnhof Lichtenberg. Die Zwillinge waren etwas dick geworden, sie hatten Heimweh nach Russland. Das hinderte sie aber nicht daran, uns noch ein letztes Mal mit Fragen zu bombardieren: »Was ist das für ein Wagen? Ein deutscher Wagen? Wie heißt deutscher Wagen auf Deutsch?«
    Ich wünschte allen eine gute Reise und winkte mit einem Taschentuch dem Russenzug hinterher. Zu Hause angekommen, konnten wir uns lange nicht an die bedrückende Stille gewöhnen. Von unserem Besuch fehlte bald jede Spur. Nur drei vom Regen durchnässte Bücher lagen noch eine Weile auf dem Balkon und wurden langsam von Tauben voll geschissen: Harry Potter auf Russisch, Im Wahn der Liebe und Das zerbrochene Herz.

Ein Spaziergang auf der Schönhauser Allee an einem besonders heißen Tag
    Alle Spiele haben wir bereits gespielt, zwei Liter Apfelsaft ausgetrunken und alle Blumen auf dem Balkon mehrmals begossen. Ich greife zum letzten Spiel, dem Mauer-Puzzle, das ich erst vor kurzem bei uns an der Ecke in einem Ramschladen gekauft habe – zum Sonderpreis von neunundneunzig Cent. Mit diesem Puzzle lässt sich die Berliner Mauer wiedererrichten, und zwar von beiden Seiten, Ost und West. Ein tolles Ding zum Zeit vertreiben mit vielen lustigen Soldatenfiguren und Zeichnungen. Sebastian wehrt sich dagegen. Auf dem Mauer-Puzzle steht auch in großen Lettern: »Achtung! Aus mehreren Gründen nicht für Kinder unter zehn Jahre geeignet.«
    Mein Sohn ist erst vier Jahre alt und findet Mauerbau langweilig.
    Also lassen wir alles stehen und liegen und gehen auf die Schönhauser Allee spazieren. Als Erstes begrüßen wir den großen schwarzen Punk-Hund mit einer Binde um den Bauch, der neben dem Burger King wacht. Jeden Morgen, wenn wir zum Kindergarten gehen, sehen wir, wie sein großer staubiger Punk-Besitzer ihn in Binden einwickelt: Mal hat das Tier einen Verband um die Pfote, mal um den Hals und heute eben um den Bauch, damit der Hund Mitleid erregend wirkt und seinem Besitzer zu ein wenig Kleingeld verhilft. Wir kennen dieses Pärchen schon lange und wissen inzwischen: dem Hund geht es gut, er ist gesund und riecht nach Bier, wie sein Besitzer auch. Beide liegen fast auf der Straße, der Punk mit einer Bierdose, der Hund mit ständig offenem Maul, als träumte er, dass ihm ein paar fette Tauben ins Maul fliegen oder vielleicht sogar ein Cheeseburger. Auf der Schönhauser Allee ist alles möglich. Sebastian macht den Hund nach.
    »Halt deinen Mund zu«, sage ich zu ihm.
    »Ich esse Wind«, kontert er. »Oh, lecker ist der Wind!«, meint er anschließend und schüttelt den Kopf. Dabei gibt es heute überhaupt keinen Wind, das Thermometer an der Apotheke zeigt
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