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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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Desmond gewesen, und als was hatte Molly gearbeitet? Also fing ich in Berlin auf der Straße und in den Kneipen noch einmal von vorne an, die neue Sprache zu lernen. Später ging ich in einen Sprachkurs der Humboldt Universität. Schnell erkannte ich dort das System. Anders als in meiner Heimatsprache kann man im Deutschen alle Worte zusammensetzen, Substantive mit Adjektiven verbinden oder umgekehrt, man kann sogar neue Verben aus Substantiven ableiten. Dabei entstehen völlig neue Redewendungen, die aber von allen sofort verstanden werden. Anfangs experimentierte ich viel in der U-Bahn. Meine ersten Versuchskaninchen waren die Fahrausweiskontrolleure, die sich immer wieder gerne auf einen komplizierten Wortaustausch einließen. »Ihr Kurzstreckentarif ist nach einer Zwanzigminutenstrecke abgelaufen«, sagten sie zum Beispiel.
    »Ich habe den Langstreckentarif nicht gefunden und wollte nur einmal kurzstrecken, habe aber die Ausstiegsgelegenheit leider verpasst«, antwortete ich.
    »Die können wir für Sie organisieren«, meinten die Kontrolleure, »steigen Sie bitte mit aus.«
    Mit oder aus? Aus oder mit? Ich war begeistert von der Flexibilität und Sensibilität dieser Sprache. Später, als ich zu schreiben anfing, betitelte ich alle meine Geschichten, ja sogar Bücher mit diesen zusammengeklappten wunderbaren Worten, die immer wieder neue Farben in die Sprache brachten. Die Russendisko zum Beispiel würde auf Russisch nur flach als »Russkaja Diskotheka« ausfallen. Und Militärmusik ist ebenfalls im Russischen nicht sagbar.
    Inzwischen ist meine Bekanntschaft mit der deutschen Sprache dreizehn Jahre alt. Und ich weiß, dass das einst begehrte Englisch – die Sprache unserer damaligen Propheten wie Ozzy Osbourne – bloß eine Entgleisung des Plattdeutschen ist. Meine Heimatsprache Russisch ist sehr bildhaft und ausdrucksreich, man kann im Russischen für alles dutzende von treffenden Wörtern finden, die aber hier im Westen keiner versteht. Im Deutschen reimt sich dafür alles auf den Endungen, wenn man nur will. Diese Sprache hat mit den Gleisen bis an den Horizont nichts zu tun, sie ist vielmehr eine Art Lego-Baukasten, in dem alle Teile zueinander passen. Was man daraus baut, ist jedem selbst überlassen. Neulich zum Beispiel zeigte meine Schwiegermutter, die kein Deutsch kann, unserer siebenjährigen Tochter ein Foto von mir mit der Bildunterschrift »Schriftsteller Kaminer« und fragte sie, was da steht. »Ist doch klar«, sagte Nicole, »Schriftsteller – das ist ein Teller mit Schrift.« Meine Schwiegermutter guckte sich daraufhin das Foto noch einmal genauer an, konnte aber nirgendwo einen Teller entdecken. Deutsch bleibt nach wie vor geheimnisvoll.

Die Geologen und ihre heimliche
Nachwuchsschulung
    »Also eure beiden Kleinen, wenn die morgens zum Kindergarten ziehen, dann sieht man sofort – das sind Oma-Kinder«, erzählte mir meine Nachbarin. »Ist es nicht toll, eine Oma zu haben?« Das konnte ich nur bestätigen. Allein in diesem Jahr verbrachte meine Schwiegermutter drei Monate bei uns. Sie stand früh auf und kümmerte sich um alles: kochte, brachte die Kinder zum Kindergarten, las ihnen alte russische Märchen vor und sang jeden Abend vor dem Schlafengehen Gutenachtlieder, die wir nicht kannten. Meine Frau und ich gingen abends aus, mal in eine Kneipe, mal in ein Konzert, und freuten uns, dass unsere Kinder mit der Oma auch noch eine andere kulturelle Tradition kennen lernten und nicht nur auf solche Wessi-Figuren wie Peter Pan und die Biene Maja fixiert wurden. Mit meiner Schwiegermutter sollten sie ihren Horizont erweitern, was auch geschah.
    Eines Tages kam mein vierjähriger Sohn Sebastian zu mir ins Arbeitszimmer. Ich war gerade dabei, eine Geschichte zu schreiben, aber die Arbeit ging nicht richtig voran. Sebastian klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Halte durch, Geolog! Gib nicht auf, Geolog!«
    »Wie bitte?«, fragte ich ihn. Wo hatte der Junge solche Sprüche her? Abends beschloss ich, mir das Gutenachtlied meiner Schwiegermutter anzuhören. Es war die Hymne der Geologen, die meine Kinder stark beeindruckte. Meine Schwiegermutter hatte dreißig Jahre lang auf Sachalin für eine Organisation namens GSO gearbeitet, was so viel wie »Geologische Schürfexpedition der Stadt Ocha« bedeutet. Früher, in der Sowjetunion, genossen die Geologen allgemeine Achtung, für viele junge Leute war es ein höchst erstrebenswerter Beruf, der alle traumhaften Elemente eines erfüllten Lebens in
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