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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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mehrmals betont hatte.
    Die ersten zehn Fragen betrafen Sebastians Familienverhältnisse: seine Vorstrafen, Ex-Ehefrauen und früheren Staatsangehörigkeiten. Ich beantwortete sie schlicht mit der Bemerkung »Kind«. Ab der zwanzigsten Frage wurde es richtig problematisch.
    »Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland?«, las ich Sebastian laut vor. Er grunzte. Er hatte den Zweck seines Aufenthaltes hier noch nicht kapiert. In dem Antrag gab es fünf verschiedene Antworten auf diese Frage: Besuch, Touristenreise, Studium, Arbeitsaufnahme, usw. Nach langem Hin und Her entschieden wir uns für »usw.«.
    »Wie lange beabsichtigen Sie in der Bundesrepublik zu bleiben?«, fragte ich meinen Sohn. Sebastian grunzte wieder begeistert. Ihm gefiel das Ausfüllen des Antrags, aber er wollte trotzdem lieber »wilde Ferkeljagd« mit mir spielen. Das Spiel geht so: Sebastian versteckt sich als wildes Ferkel hinter einer Gardine, und ich muss als Jäger ganz leise auf Zehenspitzen durch die Wohnung laufen und nach dem wilden Ferkel rufen. Ihn quasi suchen, obwohl es gar nicht nötig ist, weil das Ferkel so laut grunzt, dass die richtige Gardine, hinter der es steckt, gar nicht zu verfehlen ist. Bei diesem Spiel amüsiert sich Sebastian über alle Maßen, und er kann gar nicht genug davon bekommen. Also schrieb ich »ewig« in den Antrag. Sofort kamen mir aber Zweifel: Ist »ewig« nicht doch ein wenig übertrieben? Ich strich das »ewig« durch und schrieb dafür »lange«.
    »Haben Sie vor, eine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik auszuüben?« Hmm … Ich schaute Sebastian tief in die Augen. Bisweilen sah es nicht danach aus, aber wer weiß … Ich schrieb vorsichtig »nicht ausgeschlossen« rein. Sebastian grunzte wieder.
    Zwei Wochen später war ich wieder bei Frau Spende zu Gast. Sie las den Antrag durch und wurde wieder sauer.
    »Sie wollen mich schon wieder veräppeln!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Na gut«, meinte sie schließlich, »wir haben zwei Jahre auf Sie gewartet, jetzt werden Sie ein paar Stunden auf uns warten müssen.« Ich setzte mich in den Warteraum und nahm ein dickes Buch aus der Tasche. Doch Frau Spende erwies sich als guter Mensch und hervorragende Mitarbeiterin. Und diesen ganzen Quatsch mit den Anträgen hatte sie sich auch nicht selbst ausgedacht. Schon nach zwanzig Minuten wurde ich von ihr wieder hereingerufen und bekam gleich alles auf einmal in die Hand gedrückt: die Aufenthaltsgenehmigung für Sebastian und einen superdicken neuen Hardcover-Reisepass dazu. Jetzt können wir mit ihm um die ganze Welt fliegen.

Mein Vater, der Sportsfreund
    Mein Großvater war einer der wenigen Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, und genoss deswegen in seiner Heimatstadt einen besonderen Status. Von Montag bis Freitag schuftete er als Buchhalter in der Schuhfabrik, am Wochenende spielte er verrückt. Am Samstag gleich nach dem Frühstück trank er zuerst literweise selbst gebrannten Schnaps aus einem Bierglas, das er als Kriegstrophäe mitgebracht hatte, dann griff er nach seinen Pistolen – in jedem Haus gab es damals eine große Waffensammlung – und ging auf den Hof. Dort schoss er beidhändig die Äpfel von den Bäumen. Anschließend lief er durch die ganze Stadt zum Kulturklub, brach die Türen auf, setzte sich ans Klavier und spielte bis zum Umfallen Brahms. Seine Familie traute sich nicht, den Klub zu betreten, und wartete stattdessen so lange draußen, bis die wilden Akkorde nicht mehr zu hören waren. Erst dann trugen sie meinen Großvater vorsichtig nach Hause zurück. Nach jedem dieser Wochenenden gab es ein paar neue Einschusslöcher in den Häusern der Nachbarschaft, Trotzdem wurden die regelmäßigen Amok-Konzerte meines Großvaters von der Bevölkerung mit Verständnis aufgenommen. Meinem Vater, der damals zwölf Jahre alt war, erklärte man: »Dein Papa treibt Sport.«
    Trinken, schießen, in der Stadt rumlaufen und Klavier
spielen – das war eine Art Vierkampf, den mein Großvater bis zu seinem Tod 1976 betrieb. »Fit sein macht Spaß!«, sagte er immer wieder zu seinem Sohn, meinem Vater. Der erbte die Vorliebe des Großvaters für unkonventionelle sportliche Leistungen und übernahm auch dessen Fitness-Devise. Als Junge interessierte er sich jedoch zuerst für solch ortsübliche Sportarten wie Gymnastik und Gewichtheben und ließ sich gleichzeitig in beiden Sportvereinen einschreiben. Mein Vater sehnte sich nach Harmonie, nach Stärke und Biegsamkeit. Doch
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