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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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damals die Zeit nicht sinnlos in der Schule vergeudet, sondern haben … hm … na ja … also gab ich den Jungs drei Euro. Daraufhin glaubten sie, in mir den richtigen Sponsor gefunden zu haben, und wollten gleich auch noch für die Renovierung des Falkplatzes abkassieren. Ich verabschiedete sie. Danach kamen zwei Erwachsene in gut gebügelten Anzügen und übergaben mir zwei frische Ausgaben der Zeitschrift »Wachtturm« mit der Überschrift: »Die Probleme der Menschheit werden bald enden!«
    »Kommen Sie danach auch noch?«, fragte ich.
    »Das können wir Ihnen gerne erklären«, meinten die beiden. Ich hatte aber keine Zeit, mit ihnen über die Probleme der Menschen zu diskutieren. Vor zwei Monaten hatte ich leichtsinnigerweise versprochen, an einer skurrilen Veranstaltung teilzunehmen. In einer Berliner Grundschule sollte ich mich mit Fünftklässlern treffen. Diese Begegnung würde im Schulfach Deutsch in der Unterrichtseinheit »Ein Treffen mit einem lebendigen Schriftsteller« stattfinden, sagte die Schulleiterin zu mir, die Schüler hätten bereits seit Wochen ihre Fragen vorbereitet. Jetzt musste ich hin.
    Ich war aufgeregt. Das letzte Mal hatte ich eine Schulklasse von innen in Moskau vor fünfundzwanzig Jahren gesehen. Als ich nun wieder einen Klassenraum betrat, musste ich feststellen: Viel hatte sich nicht verändert. Diesmal sollte ich jedoch am Lehrertisch Platz nehmen. Ich versuchte, eine möglichst ernsthafte Miene zu machen. Alle Schüler hatten bunte Schildchen mit ihren Namen vor sich auf dem Tisch stehen. Es sah aus wie auf einer UNO-Konferenz. Die Kinder guckten in ihre Unterlagen und hielten die Hände hoch.
    »Ihr könnt einfach so mit mir reden, ohne euch zu melden«, eröffnete ich das Gespräch.
    »Aber nein«, meinte die Lehrerin, »die Kinder müssen lernen, wie anständige Menschen zu kommunizieren. Ich zeige Ihnen, wie es geht.«
    Sie zeigte mir, wie es geht. Also machte ich ein ernstes Gesicht und sagte: »Bitte, Saskia!«
    Saskia stand auf und fragte: »Wann haben Sie beschlossen, Schriftsteller zu werden?«
    »Vor viereinhalb Jahren«, antwortete ich. Die Kinder notierten sich meine Antwort in ihren Heften.
    »Bitte, Simon!«
    Der dicke Simon stand auf. »Wann haben Sie beschlossen, Schriftsteller zu werden?«
    »Mensch, Junge, das hatten wir bereits!«, regte sich die Lehrerin auf. Simon schaute missmutig in sein Heft und schnaubte.
    »Vor viereinhalb Jahren«, sagte ich noch einmal.
    »Bitte, Franziska!« Ich kam mir unglaublich blöd vor.
    »Was ist Ihr Lieblingsfilm?«
    » Eight Mile. «
    »Ihr Lieblingsschauspieler?«
    »Eminem.«
    »Schreiben Sie Horrorgeschichten?«
    »Sehr selten.«
    »Was ist Ihr Lieblingsfilm?«
    »Hatten wir schon!«, brüllte die halbe Klasse.
    »Wann haben Sie beschlossen …«
    »Hatten wir schon!« Der Pechvogel versank sofort hinter seinem Tisch.
    Erst nach zwanzig Minuten merkte ich, dass wir eigentlich die ganze Zeit eine Art Bingo für Anfänger spielten. Dann war ich dran und suchte heftig nach der blödesten Frage, die ich den Kindern stellen konnte. Bei uns war das früher immer die Frage gewesen: »Was willst du denn später mal werden, Junge?« Ich hatte damals immer das darauf geantwortet, was der Frager meiner Meinung nach hören wollte. Zu Lehrern sagte ich: »Ich wäre gern Lehrer«, zu meinem Vater sagte ich: »Vater«, zu unserem Nachbarn, der Alkoholiker war, sagte ich: »Schnapsbrenner«. Die Erwachsenen schauten mich meist mitleidig an und schwiegen. Nun war ich in der Rolle des Erwachsenen. Wurde auch langsam Zeit, dachte ich, holte tief Luft und fragte mit einem finsteren Gesichtsausdruck: »Was wollt ihr denn eigentlich werden, Kinder? Bitte, Saskia, bitte, Simon, bitte, Franziska!«
    Erstaunlicherweise wollte keiner von den Befragten Schriftsteller werden. Alle Mädchen in der Klasse hatten sich für intelligente, quasi bodenständige Berufe entschieden: Archäologin, Bergsteigerin und Gebärdensprachen-Dolmetscherin wollten sie werden, dazu ein anspruchsvolles Studium abschließen und sich anschließend nach einer passenden Arbeitsstelle umschauen. Die Jungs lebten dagegen noch in der Fantasiewelt. »Sänger«, »Rapper«, »Fußballspieler«, bekam ich zu hören und stellte mir vor, wie zwanzig Jahre später die Gebärden-Dolmetscherin nach einem langen anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt und auf dem Sofa der Rapper-Fußballspieler mit einer Bierbüchse vor der Glotze sitzt. Er guckt Tennis. Der Ball geht nach rechts,
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