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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama
Autoren: Wladimir Kaminer
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genießen durfte. Aber er ließ auf sich warten. Den realen Nichtlesern waren ihre Rechte anscheinend egal.
    Ganz anders ist es hier im Westen, wo jeder sich als Teil des Systems fühlt. Sogar auf der Penner-Bank am Arnimplatz scheinen alle in die Intrigen der großen Politik eingeweiht zu sein. Dort hört man schon zu früher Stunde solche Sprüche wie: »Deine Sozis haben doch die ganzen Reformen versaut«, und: »Ich kann seine Argumentation nicht nachvollziehen.«
    Dazu wird dermaßen heftig mit Bierdosen gestikuliert, dass man die Runde am liebsten sofort verlegen will: raus aus dem Park und rein ins Parlament. Erst in Deutschland lernte ich die richtigen Kommunisten kennen, außerdem noch Trotzkisten, Marxisten, Anarchosyndikalisten und, nicht zu vergessen, Maoisten. Der chinesische Sozialismus fand in Westeuropa anscheinend viel mehr Freunde als sein sowjetischer
Halbbruder.
    In den Siebzigern zogen viele junge Intellektuelle in Deutschland freiwillig aufs Land, um sich umzuerziehen und von den Bauern zu lernen. Aber anders als in China konnte man in Deutschland die Bauernphilosophie auch in jeder großstädtischen proletarischen Kneipe studieren, deswegen zogen viele auch gleich wieder zurück. Ein guter Freund von mir hat trotzdem und immerhin zehn Jahre auf dem Land verbracht und kauft auch heute noch gerne maoistische Literatur. Neulich zeigte er mir ein maoistisches Werk, das Joschka Fischer seinerzeit übersetzt hatte. Der maoistische Sozialismus, der hier als wahr und unverfälscht galt, war in der Sowjetunion logischerweise als abtrünnig und durchgeknallt eingestuft worden. Aber nicht von Anfang an. Meine Mutter erzählte mir, dass es früher in Moskau viele chinesische Studenten gegeben hatte. Sie waren die fleißigsten, die bescheidensten und die zielstrebigsten von allen. Während die übrigen Studenten oft zum Tanzen in den Gorki Park gingen und am nächsten Tag die ersten Unterrichtsstunden verschliefen, waren die Chinesen immer pünktlich zur Stelle. Sie lernten ihre Fachliteratur Seite für Seite auswendig. Jeder hatte einen Mao-Anstecker am Kragen und eine Mao-Bibel in der Tasche. Stalin unterstützte die chinesischen Genossen anfangs mit Waffen und Maschinen und bekam dafür regelmäßig aus China skurrile Geschenke, die eine Zeit lang im Museum der Revolution ausgestellt wurden. Besonders beeindruckend waren die Reiskörner, auf denen berühmte Mao-Sprüche wie »Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern« auf Russisch und Chinesisch eingraviert waren, mit einem Mao-Porträt in Farbe noch oben drauf.
    Wahrscheinlich haben gerade diese Reiskörner Stalin misstrauisch gemacht. Zuerst wollte er es den Chinesen gleichtun und Propaganda-Kartoffeln mit seinen Sprüchen anfertigen lassen, aber die Chinesen weigerten sich, ihre Technik zu verraten. Daraufhin bekam Stalin es mit der Angst zu tun: Was wäre, wenn Mao seine gesamten Werke auf Reiskörnern tonnenweise als politische Literatur über Russland ausschüttete und dadurch das ganze Volk zum Maoismus bekehrte? Also wies Stalin die fleißigen Chinesen außer Landes und schickte zusätzlich Panzer an die Grenze.
    Als ich zu studieren anfing, gab es keine chinesischen Studenten mehr. Es gab welche aus Äthiopien, Angola, Kuba, Kambodscha, Vietnam und dem Libanon, aber keinen einzigen aus China. Und von den vielen Mao-Zitaten auf den Reiskörnern ist nur eines im Bewusstsein des Volkes haften geblieben: »Das Bessere ist der Feind des Guten.« Diese Weisheit schien im Alltag nach wie vor gut zu funktionieren. Nach dem fünften Bier ging es einem gut. Es könnte noch besser sein, dachte man, sagte aber dann zu sich selbst: »Lass mal. Das Bessere ist der Feind des Guten.« Und wenn man sich daran hielt, war man am nächsten Morgen dem Vorsitzenden Mao ziemlich dankbar.

Irgendwas
    Jede neue Wohnung hat ihre eigenen Gespenster, die zuerst besiegt werden müssen. Zwei Tage nach ihrem Umzug rief meine Mutter bei mir an und meinte: »Wir hätten damals bei der Besichtigung etwas aufmerksamer sein sollen, ich glaube nämlich, wir haben eine Menge übersehen.«
    »Was denn zum Beispiel? Es war doch ein Erstbezug, alles wurde neu installiert«, entgegnete ich.
    »Im Klo ist irgendwas«, sagte meine Mutter.
    »Irgendwas Fremdartiges?«, forschte ich vorsichtig nach.
    »Ich bin mir absolut sicher, es kommt von oben. Heute stand ich früh auf, ging ins Badezimmer, und das Klo war voll mit irgendwas.«
    »Vielleicht ist Papa
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