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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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starren, glänzenden Blick von Glasaugen, die in einer weichen Maske stecken, die jederzeit zu zerfließen droht. Sie stolperte, beinahe wäre sie mir, aufkreischend, um den Hals gefallen. Servus Holzer, sagte sie. Lange nicht gesehen.
    Mein Hund begann zu bellen, ich hatte einen Schweißausbruch, die Augengläser, die beinahe wieder klar waren, liefen neuerlich an. Das müssen wir feiern, sagte sie, aber nicht hier.
    An den engen rosa Pulli der Kellnerin, die plötzlich vor mir stand, kann ich mich noch erinnern, ganz kurz der Gedanke an einen gläsernen Frauenkörper, gefüllt mit Soda mit Himbeer, die große schwarze Kellnerbrieftasche, die sich wie ein dunkler Schlund öffnete, auf dessen Grund es glitzerte, ein Arm in blau-weiß gestreiftem Hemd, der von irgendwoher kam und, ich weiß nicht wie und von wem, weggeschlagen wurde, so viel Bewegung unmittelbar um mich herum, und ich war so starr.
    Auf der Straße hängte sich Maria bei mir ein. Erzähl! Ich musste plötzlich lachen. Ich hatte nichts zu erzählen.
    Ich habe bisher ein Leben geführt, von dem nur erwähnenswert ist, dass es in eigentümlicher Konsequenz nie einer Erwähnung wert war. Als ich einmal einen gewissen Stolz zu empfinden begann, dass ich ein aufsehenerregendes Leben führte, merkte ich allzu bald, dass der banale Anlass dieses Stolzes bloß dumme und belanglose Schülerstreiche waren. Als ich dann einmal glaubte, der Meinung sein zu dürfen, dass ich ein kämpferisches und intensives Leben beginne, merkte ich, dass ich konsequenzlose studentische Scharmützel beinahe allzu wichtig genommen hätte. Als ich mein Studium abbrach, trat ich in eine Bank ein, in der ich noch heute arbeite.
    Mein Leben seitdem lässt sich erst recht in beschämend wenigen Worten vollständig beschreiben: Pünktlichkeit, Freundlichkeit und jener Fleiß, der seine Objekte in derselben harmonischen Geschwindigkeit sich vermehren sieht, wie er sie wegerledigt. Ich habe nicht den Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, aber der Gedanke, dass, hätte ich den Wunsch, diese schon mit dem Kauf von Papier fertiggestellt wäre, da sie füglich nur aus leeren Seiten bestehen müsste, irritierte mich sehr. Diese Unzufriedenheit ist unverständlich, denn ich habe keine Sorgen. Aber sie ist verständlich, denn ich bin nie glücklich gewesen.
    Ich gerate meinem Vater nach. Er ist ein korrekter Mann, freundlich ohne Überschwang, mit einer stillen, ewig ängstlichen Frau, meiner Mutter.
    Ich wäre lieber nach meinem Großvater gekommen.
    Im Jahr 1968, ich war gerade vierzehn, hat er mir zum ersten Mal aus seinem Leben erzählt. Im Februar 1934 hat er als Sozialist am Arbeiteraufstand teilgenommen, später im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden gekämpft, dann ist er in die englische Emigration gegangen und mit der British Army als Befreier zurückgekommen. Ist auch kein Sieg gewesen, hat er gesagt. Warum? Schau dich doch um. Na, du wirst schon noch sehen, was ich meine. Und angerechnet wurde uns das auch nie, die ganzen Jahre des Kampfes, nicht einmal für die Pension. Heute reicht’s gerade dazu, auf einem Parkbankerl zu sitzen. Soll ich vielleicht Tauben füttern? So grausliche Viecher.
    Als Großmutter schwer krank wurde, haben sie gemeinsam eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt. Damals war ich siebzehn und bin in der Schule fast durchgefallen.
    Mein Selbstgefühl habe ich in jener Zeit sicherlich aus der Verachtung bezogen, die ich für all die empfand, in deren Leben immer alles so glatt, problemlos und harmonisch ablief, dass ihnen stets die richtige Antwort, aber nie eine Frage einfiel. Ich verachtete also fast alle, natürlich auch die Lechner. Ich war überrascht, wie sehr ich das Wiedertreffen mit ihr genoss. Jetzt, mit fünfunddreißig, war sie plötzlich eine Achtzehnjährige, bei der sich das simple Hochgefühl, das man empfinden mag, wenn man schon rauchen darf, grotesk übersteigert zeigte. Aber es hatte einen Sog, von dem ich, ängstlich und verspannt, also auf unklare Weise augenblicklich erregt, mitgerissen wurde. Und als wir nach einem Lokalbummel, der meine Kräfte beinahe überstiegen hätte, zusammen ins Bett gingen, da hatte ich das Gefühl, von Maria erst zum Mann gemacht zu werden. Ich meine dies in Hinblick auf die eigentümlichen Idealbilder, die gesellschaftlich von Männlichkeit und Weiblichkeit existieren und die in der Sexualität im Ideal einer Lust kulminieren, die ich nur aus Pornofilmen kannte, die mir aber in meinem
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